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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Menschen in den Cafés sitzen, lachen, die Sonne genießen. Wenn man den Gesprächen lauscht, mit Menschen spricht, sogar wenn man in der Bäckerei seine Brötchen kauft, gibt es der nach außen hin heiteren Sommeratmosphäre zum Trotz nur ein einziges bedrückendes Thema. Sondernachrichten unterbrechen immer wieder das laufende Radioprogramm: In Berlin spitzt sich die Lage seit ein paar Tagen dramatisch zu. Am Wochenende wurde der Ostsektor Berlins mit Stacheldraht und einem riesigen Aufgebot an Grenzsoldaten abgeriegelt. Gestern hat man das Brandenburger Tor geschlossen. Panzereinheiten und hochgerüstete Volkspolizeiverbände der DDR bewachen das Tor vom Hindenburgplatz aus. Alle Telefonleitungen zwischen West- und Ostdeutschland sind unterbrochen. Es geht das Gerücht, daß die DDR mit dem Bau einer Mauer aus Betonplatten entlang der Sektorengrenze beginnen will. Es müssen sich dramatische Szenen in der Stadt abspielen. Menschen versuchen, in letzter Sekunde noch irgendwie zu fliehen, sogar DDR-Grenzbeamte haben die vielleicht letzte Gelegenheit zur Flucht genutzt.
    Die Politik reagiert bis jetzt etwas hilflos mit Protestnoten und diplomatischen Bemühungen, aber die Westmächte verstärken bereits ihre Truppen in Deutschland. Man fürchtet eine katastrophale Zuspitzung der Lage bis hin zu einem neuerlichen Krieg. Von den persönlichen Tragödien der Menschen, die im Osten leben, einmal ganz abgesehen.
    Die Angst vor den Konsequenzen dieser Vorgänge, beherrscht
zur Zeit wohl die gesamte westliche Welt, und ich frage mich, ob mein geplantes Treffen mit meinem Onkel Werner angesichts dieser Situation überhaupt stattfinden wird. Immerhin ist Onkel Werner als Oberbürgermeister von Frankfurt sicher mit all den politischen, diplomatischen und menschlichen Konsequenzen, die sich aus dieser Katastrophe für ganz Deutschland ergeben, hautnah konfrontiert, und ihm wird nicht unbedingt der Sinn nach einem Familientreffen stehen. Aber ich habe mich entschlossen, trotzdem zum »Römer«, dem Frankfurter Rathaus zu gehen und ihm zumindest meine Grüße überbringen zu lassen. Nach Berlin, wo ich eigentlich zu Aufnahmen erwartet werde, kann ich heute ohnehin nicht mehr fliegen. Alle Flüge wurden bis auf weiteres gestrichen.
    Ratlos und besorgt betrete ich das Rathaus, gehe die imposanten Stufen zu Onkel Werners Arbeitszimmer hinauf. Auf dem obersten Treppenabsatz kommt er mir bereits entgegen. »Hallo, mein Junge, schön, daß du da bist!« Er umarmt mich, und die Geste weckt Erinnerungen an die wenigen Begegnungen, die ich in meiner Kindheit mit ihm hatte. Er war neben Onkel Johnny immer der lockerste der Brüder meines Vaters. Die beiden waren sich nie zu fein dazu, mit uns Kindern zu spielen oder auch mal Blödsinn mitzumachen, und sie waren die einzigen, die meinem Vater nicht ins Gewissen geredet haben wegen meiner schwächlichen Art, meiner »seltsamen« Begabung und meinen in dieser Familie höchst ungewöhnlichen Berufswünschen.
    Onkel Werner hat seit vier Jahren das Amt des Oberbürgermeisters von Frankfurt am Main inne.
    »Hast du denn angesichts der Lage überhaupt Zeit für mich? Ich würde es wirklich verstehen, wenn wir unser Treffen verschieben müßten.«
    »Nein, ich freue mich, daß du da bist. Das bringt mich wenigstens auf andere Gedanken! Ich muß noch für einen Moment ins Besprechungszimmer, dann bin ich für dich da.«
    Ich warte in seinem Büro, und wenige Minuten später kommt er von seiner Kurzbesprechung zurück.
    »Daß ich so etwas Menschenverachtendes von einem Staat auf deutschem Boden noch einmal würde erleben müssen«, erklärt er unvermittelt, noch bevor er sich setzt, und seine Stirn runzelt sich besorgt und wütend. Sein Herz als Sozialdemokrat hat früher einmal
auch entschieden für einen starken Sozialismus geschlagen. Er war in den zwanziger- und dreißiger Jahren sogar Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen. Damals natürlich sehr zum Entsetzen der zutiefst bürgerlichen Familie. Im Laufe der Zeit hat sich die Radikalität aus seinen Ansichten verflüchtigt, und die demokratischen Werte wurden ihm die wichtigsten.
    Onkel Werner lächelt bitter, und seine klugen Augen sehen mich durch die Brille hindurch direkt an. »Man ist dabei, Menschen mit Mauern und Stacheldrahtzäunen, mit Panzern und Maschinengewehren daran zu hindern, ihr Leben und ihren Aufenthaltsort frei zu bestimmen und Fakten einer Teilung zu schaffen, die unmenschlicher kaum noch sein könnte.« Er schüttelt

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