Der Mann mit dem Fagott
eine Zigarette, zündet sie an und macht sie gleich wieder aus. »Ich rauche ja schon lange nicht mehr. Manchmal könnte man das fast vergessen.«
Ich bemerke, daß seine Hände leicht zittern.
»Na, jedenfalls«, besinnt er sich, »Ruth war wie ich in der kommunistischen Partei, und es hat nicht lange gedauert, bis sie als Jüdin, die auch noch Kommunistin war und dem Nazi-Klischee somit so uneingeschränkt zu entsprechen schien, fliehen mußte. Eigentlich sollte die Liebe ja stärker sein als alles andere, so heißt es jedenfalls immer, aber der Zauber des Anfangs war irgendwann verflogen, und es blieb diese unermeßliche Belastung, an einer solchen Liebe in dieser Zeit festzuhalten. Es war mehr, als ich aushalten konnte.«
Werner lacht bitter. »Ich war damals nun mal wahrlich kein Held. Ein Teil von mir wollte bei ihr bleiben, sie beschützen, sie heiraten, alles mit ihr durchstehen, ein anderer Teil von mir wollte vor allem nicht alles aufgeben. Und wieder ein anderer Teil hatte einfach Angst und war feige, das muß ich ehrlich zugeben. Wir hätten nach Amerika oder in die Schweiz emigrieren müssen, und dazu war ich innerlich nicht bereit. Hier war meine Familie, und irgendwie war ich natürlich auch noch Deutscher.«
Er macht eine Pause.
»Und dann ging alles sehr schnell. Mitten in dem ganzen Wirrwarr hab ich Rita kennengelernt. Sie war Deutsche mit russischen Wurzeln, ähnlich wie ich. Wir hatten so unendlich viel gemeinsam …« Werner greift wieder nach meiner Zigarettenschachtel, zündet sich eine an, raucht schnell ein paar Züge, drückt sie dann wieder aus.
»Ich habe mich rückhaltlos in diese neue Liebe gestürzt, mit der Kraft der Jugend, sich immer wieder neu zu verlieben und alles andere hinter sich zu lassen.« Werner putzt nachdenklich seine Brille, setzt sie wieder auf und spricht weiter.
»Ich hab einfach alle Verantwortung hinter mir gelassen, der ich mich nicht gewachsen gefühlt habe. Rita und ich haben schon kurz nach unserer ersten Begegnung geheiratet, haben dann bald Mischa und Andrej bekommen, und ich habe meine Schuldgefühle vollkommen verdrängt. Bis zu jenem schrecklichen Tag im März 1946 und Mischas Tod. Da hab ich plötzlich begonnen, mich immer wieder zu fragen, ob dieser Tod meines Ältesten eine Art Rache des Schicksals für meine Schuld gegenüber Ruth gewesen sei.« Er hält inne, spielt mit meiner Zigarettenschachtel.
»Rache des Schicksals, daran kann ich einfach nicht glauben«, werfe ich ein.
»Nein, das gibt es wirklich nicht, und es gibt auch kein Erwachsenwerden ohne Schuld. Wir alle verlieben uns und sind der Verantwortung nicht gewachsen, verlassen, fügen Schmerz zu, verlieben uns wieder. Wenn wir als junge Menschen nicht die Fähigkeit hätten, die Schuld hinter uns zu lassen, müßten wir alle ja mit 30 schon vor Schuldgefühlen beinahe lebensunfähig sein.« Er räuspert sich. »Und die Schuld war damals natürlich noch viel existentieller, weil sie eine Jüdin betraf, die man ja eigentlich hätte schützen und retten müssen.« Werner will sich eine Zigarette nehmen, besinnt sich und schiebt sie mit einer entschlossenen Geste zu mir.
Ich nicke. »Aber Ruth hat den Krieg auch ohne dich überlebt.«
Werner lacht leise. »Ja. Zum Glück hat sie mich als ihren ›Helden‹ zum Überleben nicht gebraucht. Sie hat überlebt, ist heute glücklich, in Zürich verheiratet und hat mit ihrem Mann, Heinz Liepman, eine höchst erfolgreiche Literaturagentur gegründet. Ich habe zu ihrem Glück nichts beigetragen.«
Er lächelt.
»Hast du dich manchmal gefragt, wie dein Leben gewesen wäre, wenn du damals zu Ruth gestanden hättest?«
Werner schüttelt den Kopf. »Natürlich. Manchmal. Aber das ist alles müßig. Gelebtes Leben hat eine unglaubliche Kraft. Ich bereue keinen Tag meines Lebens.«
Werners Worte wühlen etwas in mir auf, das ich immer schon gefühlt, mir aber noch nie in dieser Deutlichkeit bewußt gemacht habe, und während wir unseren Espresso trinken und ich an die Liebeswirren in meinem eigenen Leben denke, kann ich Werner besser verstehen, als er vielleicht ahnt, fühle mich ihm näher denn je.
Und als wir auf die Straße treten, bei einem Zeitungsjungen eine Ausgabe der Zeitung des nächsten Morgens kaufen, uns über die aktuelle Lage in Berlin informieren, ahne ich, was mein Großvater gemeint hat, als er schrieb: »… Eine Familie ist wie ein Baum, im Erdreich verankert durch ein Geflecht von starken und schwachen Wurzeln, die sich in
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