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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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seinem Stamm vereinen und in den dem Himmel zugewandten, nach oben strebenden Ästen und Zweigen ihr Spiegelbild finden …«

17. KAPITEL
    Baden-Baden, 14. und München, 25. Juni 1963

»Wann wird man je versteh’n?«
    »Sag’ mir, wo die Blumen sind, wo sind sie geblieben? Sag’ mir, wo die Blumen sind, was ist gescheh’n …« Im Zuschauerraum des Baden-Badener Kurhauses ist es so still, daß ich beinahe mein Herz schlagen hören kann. Techniker, Wachleute, Bühnenarbeiter, Putzfrauen, wer immer gerade nichts zu tun hat, hat sich versammelt, um dieser Probe zu lauschen - und wird innerhalb von Sekunden in den Bann einer Frau gezogen, deren pure Ausstrahlung und Intensität einen tief in der Seele erfaßt. Eine lebende Legende - und doch unendlich viel mehr als das. Ein Mythos, eine Sphinx, eine Unberührbare, die Sehnsüchte weckt und doch keinen Hehl daraus macht, daß diese Sehnsüchte, selbst der Wunsch nach einem Lächeln, einer kleinen Geste, einer leisen Berührung unerfüllt bleiben werden. Eine Frau, die unfaßbar bleibt, beinahe unverwundbar und doch so unendlich verletzt von jedem einzelnen Ton, den sie singt. Marlene Dietrich.
    Mit maskenhaftem Gesicht, fast unwirklich hell geschminkt, einem hautengen Kleid, immer noch atemberaubenden Beinen steht sie in ihren Bewegungen bewußt auf ein Minimum reduziert auf der Bühne.
    »Sag mir, wo die Blumen sind, Mädchen pflückten sie geschwind - wann wird man je versteh’n, wann wird man je versteh’n?« singt sie leise, mit ihrer unverwechselbaren Stimme. Ohne jegliche »Performance«, ohne ihr Lied zu verkaufen, sich bei irgend jemandem mit einem Lächeln, einer Geste, einer Handbewegung einzuschmeicheln,
ohne Show zu machen, erreicht sie doch jeden in diesem Raum, selbst die Garderobenfrau, die ganz am Ende des Saales steht und zuhört.
    »Sag mir, wo die Männer sind, zogen fort, der Krieg beginnt, wann wird man je versteh’n, wann wird man je versteh’n?« Ich spüre eine Gänsehaut am ganzen Körper. Es ist eines der einfachsten Lieder, die ich je gehört habe, nur drei Harmonien und ein Text, der von Vers zu Vers nur einzelne Worte verändert. Was so scheinbar leicht mit Blumen und Mädchen begann, wird plötzlich zu einem Lied über Soldaten und Gräber, und Marlene Dietrich ändert die Interpretation um keine noch so kleine Nuance. Keine noch so kleine mimische Geste. Sie läßt ihre Stimme wirken, die Melodie, die leise Trommel im Hintergrund, ihre eigene Erscheinung. »Sag’ mir, wo die Gräber sind, Blumen weh’n im Sommerwind …«
    Niemand im Raum wagt mehr zu atmen. Diese Frau ist die faszinierendste und unergründlichste Erscheinung, die ich je auf einer Bühne erlebt habe.
    »Die muß über sechzig sein!« flüstert ein Kabelträger hinter einer Kamera in meiner Nähe einem Kollegen zu.
    »Diese Frau ist unglaublich«, antwortet der andere leise.
    Und ich soll morgen im Vorprogramm auftreten, in der gleichen großen TV-Show wie diese Legende. Na, das kann ja gut werden. Die beiden Lieder, die ich dort präsentieren werde, sind wieder nichts Eigenes. Wieder irgendwelche lauwarmen Songs, die die Produzenten für mich und »den deutschen Markt« ausgesucht haben. Einfach nichts, womit ich mich identifizieren kann, nichts, worin ich mich entwickeln könnte, nichts, was ich irgendwie gestalten könnte.
    Der Trommler läßt den letzten leisen Wirbel verklingen. Schweigen im Raum. Dann der frenetische Applaus der Kameraleute, Kabelträger und Bühnenarbeiter. Marlene Dietrich verbeugt sich knapp und geht ab. Noch einige Sekunden lang bewegt sich niemand im Raum, dann geht man wieder seiner Arbeit nach, es wird für eine Ballettszene umgebaut, es ist laut, hektisch, chaotisch.
    Gedankenverloren schlendere ich hinter die Bühne, noch immer völlig im Bann dieser Persönlichkeit, dieses tief unter die Haut gehenden Liedes. Solche Songs bräuchte man. Und natürlich so
eine Aura. Aber im Moment kann ich davon nur träumen. Ich bin 28 Jahre alt, und ich spüre deutlicher denn je, daß ich noch viel lernen muß.
    Hinten in den Kulissen zwischen herunterhängenden Vorhängen. Scheinwerfern, Kabeln, Kulissenteilen steht der Flügel, den man für meinen Auftritt auf die Bühne schieben wird. Wie selbstverständlich setze ich mich daran, schlage einige Akkorde an.
    Was mache ich falsch? Warum geht überhaupt nichts mit meinen eigenen Liedern in Deutschland? Und dabei habe ich doch mit diesen eigenen Liedern längst Erfolg - sogar Welt erfolge: Shirley

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