Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
Vom Netzwerk:
deiner Familie sollst du machen können, ohne daß es in der Zeitung steht.«
    Sie schüttelt verärgert den Kopf.
    »Warum regst du dich denn so auf«, versuche ich zu beschwichtigen.
    »Ach, was weißt du denn«, gibt sie immer noch aufgebracht zurück und legt mir eine Zeitung auf den Tisch. »Du hast doch keine Ahnung wie das ist, wenn man ständig diese ganzen Geschichten über dich und die Bilder mit deinen Kindern und das Gewäsch über deine Ehe und deine vermeintlichen Affären in der Zeitung lesen muß - und den ganzen Unsinn, den du dazu zum besten gibst.«
    Ich bin sprachlos angesichts dieser unverhohlenen Ausdrucksweise.
    »Ach, ist doch wahr«, insistiert meine Mutter. »Und ihr Künstler seid doch selbst schuld an diesen Zuständen! Du nimmst ja in Interviews auch kein Blatt vor den Mund, und sogar die Kinder werden für deine Publicity mit hineingezogen. Warum erzählst du den Reportern bloß überhaupt so persönliche Dinge wie, daß du deinen Freiraum brauchst und solchen Quatsch? So etwas lebt
man, von mir aus, aber darüber spricht man doch nicht! Schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Und dann auch noch über deine Ängste zu reden, über die Alpträume, die du als Kind hattest, über dein kaputtes linkes Trommelfell und den angeborenen grauen Star auf deinem linken Auge? Da, lies doch selbst, hier steht, daß du bald blind und taub sein wirst und daß du ein von Ängsten zerfressenes Nervenbündel bist.« Sie hält mir die Zeitung vor die Nase und liest vor: »›Udo Jürgens - erblindet er oder wird er taub?‹ So sind dann die Schlagzeilen, die wir lesen müssen, und du wirst in den Artikeln dargestellt als ein oberflächlicher Weiberheld, der von Ängsten zerfressen ist. Das bist du doch gar nicht. Muß dieser Seelenstriptease wirklich sein?« Meine Mutter hat sich ihre Wut von der Seele geredet. »Entschuldige«, versucht sie, die Härte ein wenig zurückzunehmen. »Ich will so etwas über meinen Sohn einfach nicht in der Zeitung lesen.« Sie nimmt meine Hand mit beiden Händen. »Kannst du das verstehen?«
    Bevor ich reagieren kann, nimmt mein Vater mir die Zeitung entschlossen aus der Hand. »Es ist so ein schöner Nachmittag, und wir wollen ihn uns wirklich nicht wegen so eines Unsinns vermiesen.«
    Er legt das Blatt demonstrativ auf den Boden.
    Onkel Johnny bückt sich, hebt sie auf. »Ihr wißt offenbar gar nicht, was für ein Stück Hoffnung, Kultur und Leben so eine Zeitung sein kann! Selbst ein winziger Schnipsel!« Er reißt wahllos einen handtellergroßen Fetzen ab.
    »So ein Ausschnitt wie der hier war in der Zeit, als es mir am schlechtesten ging, mein Lebenselixier. Als ich irgendwo im Ural in russischer Kriegsgefangenschaft in einem Lager saß und es keinen größeren Lebensinhalt, keine größere Aufgabe gab, als den jeweiligen Tag zu überleben, war so ein winziges Stück aus einer Zeitung unsere ›Bibliothek‹. Keine Zeile war vollständig lesbar, aber wir haben es gehütet wie einen Augapfel, und es hat uns wochenlang Lebensmut gegeben…- Ich werde nie die Bedeutung vergessen, die so ein Stück Papier für lange Zeit für mich hatte. Wichtiger als das Floß, das ein Ertrinkender zum Überleben braucht.«
    Er will meinem Vater den Schnipsel reichen, doch dieser läßt ihn versehentlich fallen. Langsam segelt er zu Boden …

20. KAPITEL
    Ural, Kriegsgefangenenlager Nr. 7149/2, Januar 1947 bis Dezember 1949

»Tote raus!«
    Irgendwann im Januar 1947. Tiefe Nacht. Eiseskälte. Dr. Johann Bockelmann nimmt eine Handvoll Schnee, meistens die einzige Möglichkeit, sich nach dem Gang auf die völlig verdreckte Lagerlatrine, ein Graben, über den ein Brett führt, notdürftig geschützt von einem halbverfallenen Bretterverschlag, zu säubern. Es ist der Vorteil des Winters: Man hat wenigstens Schnee, um sich behelfsmäßig zu reinigen, und der Gestank an jenem Ort ist etwas erträglicher als im Sommer. Es wimmelt im Winter auch nicht von Fliegen und tausenderlei Ungeziefer.
    Davon abgesehen ist diese Jahreszeit die schlimmste von allen. Es ist schon der dritte Winter, den er im Lager im Ural verbringt. Er hat so viele mitgefangene Kameraden sterben sehen, daß er längst aufgehört hat, sie zu zählen. Die meisten davon starben im Winter, und mehr denn je gilt jetzt, irgendwie zu überleben, bis der Frühling wiederkommt und mit ihm neue Hoffnung.
    Dr. Bockelmann zieht seinen alten, verschlissenen Mantel fester um sich; sein wichtigster Besitz. Er zieht ihn praktisch niemals

Weitere Kostenlose Bücher