Der Mann mit dem Fagott
ihm in einem merkwürdigen Dämmerzustand verborgen, aus dem manche Momente wie grelle Stiche schmerzhaft herausleuchten.
Seine Verhaftung in Bukarest Ende August 1944 - ein Gefühl von Unwirklichkeit. Er war mit seiner Einheit dort stationiert gewesen, skeptisch geduldet von den verbündeten Rumänen. Johann Bockelmann hatte eigentlich von diesem Krieg nicht viel mitbekommen. Er war wegen seines Doktorgrades gleich Offizier geworden, obwohl er wahrlich alles andere als ein deutscher Vorzeigesoldat war.
Er war viel eher ein »Praliné-Soldat« wie seinem Lieblingsstück »Helden« von George Bernhard Shaw entsprungen. Er war ein Tolpatsch wie er im Buche stand, vergaß regelmäßig laufende Wasserhähne, eingeschaltete Herdplatten, brachte es fertig, sich selbst beim Tennisspielen mit dem Schläger k.o. zu schlagen, lief barfuß und im Nachthemd grippekrank durch die Stadt, weil er sich auf dem Weg zur Toilette auf dem Flur aus seinem Zimmer ausgesperrt hatte und dergleichen mehr. Seine Pistole war schon aus Vorsicht vor einem Mißgeschick nie geladen, und in den Patronentaschen bewahrte er alles auf, nur keine Munition.
Er war nie an der Front gewesen, hatte in all den Jahren seit seiner Einberufung keinen einzigen Schuß abgegeben. Mit 26 hatte man ihn als Rekrut eingezogen und ihm, weil er als Jurist dafür geeignet war, eine Ausbildung zum Verwaltungsbeamten angeboten. Einige Zeit lang hatte er am Bukarester Flughafen Ploeşti Dienst getan. Hier waren vor allem Bomber, Jagd- und Transportflugzeuge stationiert, die Einsätze gegen die Rote Armee in der Ukraine und gegen Partisanen in Jugoslawien flogen. Er hatte diese Einsätze und das dafür nötige Material wie Treibstoff und dergleichen zu organisieren, war mit seinen Kameraden im vornehmen Hotel Lafayette untergebracht und hatte in Bukarest ein beinahe beschauliches Leben geführt - mit Freunden, Büchern, kleinen Festen.
Die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber den deutschen Soldaten war in den letzten Wochen vor seiner Festnahme immer feindseliger geworden. Die Russen waren immer näher gekommen, und die Rumänen schienen die Seiten zu wechseln.
Dann der Umsturz, die Entmachtung Generals Ion Antonescu, die Kapitulation Rumäniens gegenüber den Russen. Bevor man die neuen Verhältnisse verstehen und sich wappnen konnte, war die Rote Armee in Bukarest einmarschiert. Früh am Morgen wurde die Tür von Johann Bockelmanns Quartier eingetreten, und er hatte in russische Gewehrläufe geschaut. Man stieß ihn quer durch den Raum, schrie ihn an. Instinktiv zeigte er nicht, daß er Russisch verstand. Er raffte seine Sachen zusammen, wurde gemeinsam mit anderen deutschen Soldaten auf die Ladefläche eines Lastwagens getrieben. Sammelstelle. Uhren, Ringe, Stiefel, alles, was den Rotarmisten irgendwie wertvoll erschien, wurde ihnen abgenommen.
Viehwaggons. So dicht beladen, daß man nicht einmal auf dem
Boden sitzen konnte. Sie standen, Körper an Körper. Umzufallen war nicht möglich. Dunkelheit. Verlust von Zeit und Raum. Wieviele Tage sie so fuhren, konnte er nicht ermessen. Hunger, Durst, Hitze, Gestank. Manchmal der Gedanke, es wäre vielleicht besser, tot zu sein. Aufbringen all seiner Willenskraft, um diese Anfälle von Selbstaufgabe zu bekämpfen.
Er dachte an seinen Vater Heinrich, der vor fast genau dreißig Jahren in einem Güterwagen wie dem, in dem er selbst gerade stand, dichtgedrängt tagelang in die Ungewißheit, die Verbannung gefahren ist. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Heinrich als Deutscher in Moskau, in einem Moment, in dem die Stimmung der Geschichte sich radikal gewandelt und die traditionelle Freundschaft zwischen Rußland und Deutschland in Feindschaft umgeschlagen war, die bis heute Bestand hatte. Und Johann Bockelmann als deutscher Soldat in einem Krieg, den er nie wirklich verstanden hatte. Theoretisch hatte er als deutscher Soldat gegen sein Geburtsland gekämpft, aber gemerkt hatte er davon eigentlich nichts. Und doch war er nun zwischen die Fronten und in eine Lage geraten, die er sich in seinen schlimmsten Alpträumen so nicht hatte ausmalen können.
Wie hatte sein Vater Heinrich das damals überstanden? Er versuchte, sich zu erinnern, von seinen Erfahrungen zu profitieren, aber es gelang ihm nicht.
Alle paar Tage ein Halt irgendwo. Laut rasselndes Öffnen der Schiebetür. Gleißendes Licht, das nach all der Dunkelheit in den Augen schmerzte.
»Tote raus!« Der gebrüllte Befehl in gebrochenem
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