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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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aus. Nachts dient er ihm auch als Decke, die einzige, die verfügbar ist. Da er so abgemagert ist, kann er den wärmenden Stoff zum Schlafen beinahe doppelt um sich wickeln. Es hat ihn in mancher Nacht schon vor dem sicheren Erfrierungstod gerettet.
    Dr. Johann Bockelmann lehnt sich an den Pfosten des Holzverschlages. Schon die paar Schritte schwächen ihn so sehr, daß er manchmal daran zweifelt, daß er jemals wieder zurück in seine Baracke
kommt. Manchmal bricht er auf dem Weg zusammen, bleibt liegen und schafft es nur mit großer Willensanstrengung oder der Hilfe eines zufällig vorbeikommenden Kameraden, wieder aufzustehen und weiterzugehen.
    Um ihn völlige Dunkelheit. Soll er eines seiner kostbaren Streichhölzer opfern, um sich zu orientieren? Er könnte sich auch für einen Augenblick daran wärmen. Der Schnee hat seine Hand beinahe gefühllos gemacht. Er entscheidet sich, es zu tun, legt den Schnee beiseite. Der Kopf des Hölzchens ist naß geworden. Er pustet, um es zu trocknen, reibt es ein wenig an seinem klammen Mantel, versucht wieder, es zu entzünden, und tatsächlich: ein schwacher Schein, ein warmes Flackern, das er sorgfältig in seiner Hand birgt. Ein paar Sekunden der Wärme in seiner linken Handfläche, die er genießt, ein kurzes Aufleuchten seiner näheren Umgebung.
    Neben ihm die Kiste mit den Abfällen, in die die Wachen manchmal etwas werfen, das sich zum Abwischen eignet. Meistens ist die Kiste leer, doch diesmal liegt sogar etwas drin: Kartonreste, irgendwelche Blätter. Dr. Johann Bockelmann wühlt in dem unsäglichen Haufen, und im letzten Aufglimmen des Streichholzes glaubt er, seinen Augen nicht zu trauen. Er meint tatsächlich, ein Stück aus einer Zeitung zu sehen, ein Frauengesicht. Lächelnd. Wie eine Botschaft aus einer anderen Welt. Er kann es nicht fassen. Er muß den Ausschnitt haben. Das Licht ist verloschen. Hilflos wühlt er mit seinen Händen vorsichtig in dem Haufen, bekommt tatsächlich einen Papierschnipsel zu fassen. Das muß er sein. Der Schnipsel wandert in die Manteltasche.
    Krämpfe schütteln ihn. Seit Wochen kämpft er gegen die Ruhr. Sein Körper kommt einfach nicht zur Ruhe. Wenn der Schneider Adolf Sterzig, einer seiner Kameraden, der für die Wärter von Zeit zu Zeit Flickarbeiten macht und dafür bessere Verpflegung bekommt, ihm nicht immer wieder etwas von seiner Sonderration zustecken würde, wäre Johann Bockelmann bestimmt längst verreckt. Die normale Lagerverpflegung kann er oft nicht einmal bei sich behalten.
    »Adolf, wenn wir beide jemals hier rauskommen, und wenn ich je in meinem Leben wieder einen Anzug trage, dann wirst du ihn mir schneidern … Du und kein anderer, das steht für mich fest. Ich
werde nie mehr einen Anzug tragen, der nicht von dir ist«, verspricht er dem Freund, und es ist ihm ernst.
    Mühsam schleppt er sich zurück in seine Baracke. Seit einem halben Jahr hat er keine Schuhe mehr. Sie haben sich einfach aufgelöst und waren nicht mehr zu reparieren. Eine Zeitlang hatte er nur noch seine Fußlappen, dann brachte ein Mitgefangener eines Tages von der Arbeit einen kaputten Autoreifen mit. Aus der gebogenen Gummiröhre konnte man sich mit einigem Geschick etwas anfertigen, in dem die Füße einigermaßen geschützt waren. Diese »Schuhe« waren für ihn die beste Errungenschaft seit einem Jahr.
    Der Weg von der Latrine zur Baracke ist vielleicht 50 oder 60 Meter weit, für die er wohl an die zehn Minuten braucht. Doch er geht sie diesmal ein wenig leichter. Er hat etwas Besonderes in seiner Tasche, irgendetwas, das er natürlich erst am nächsten Tag untersuchen und genauer betrachten kann. Ein Ausriß aus einer Zeitung, ein Bild von einer lächelnden Frau.
    Zurück in der Baracke der Kampf um seinen Schlafplatz. Je zwei bis drei Mann teilen sich eine Pritsche, und natürlich haben die anderen sich in der Zeit seiner Abwesenheit ausgebreitet. Ein Stöhnen und Schimpfen und mühsames Wälzen, dann findet er wieder ein paar Handbreit Platz, um sich hinzulegen. Er zieht den Mantel fester um sich, steckt eine Hand in die Tasche, um das verheißungsvolle Stückchen Papier zu schützen. Was für ein Glück, daß ausgerechnet er es gefunden hat, daß er ausgerechnet zu dieser Stunde die Latrine aufsuchen mußte.
    Unruhiges Dösen. Krämpfe, Kälte, Fieber. Wann er zum letzten Mal wirklich geschlafen hat, weiß Johann Bockelmann nicht mehr. Seit zweieinhalb Jahren ist er nun in diesem Lager, und die Zeit, die hinter ihm liegt, scheint

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