Der Mann mit dem Fagott
Leben ist viel zu schnell, um über diese Dinge über kurze Augenblicke des schlechten Gewissens hinaus besorgt zu sein. Steuern kann ich es schon lange nicht mehr so richtig, nur reagieren, mich dem Sog hingeben, der sich entwickelt hat und hoffen, daß alles gutgeht und es auch auf eine seltsame Weise genießen.
Die Ruhe, die der Anblick der Karawanken in der Abenddämmerung mir gibt, hatte ich schon beinahe vergessen. Bald werde ich zu Hause sein, am Lamisch, meine Eltern wiedersehen, meinen Onkel Johnny, der gerade zu Besuch ist. Menschen, die mich besser kennen als jeder andere, denen ich nichts vormachen kann oder muß, bei denen ich mich nicht nach den Motiven für ihre Ratschläge oder nach der Aufrichtigkeit ihres »Zu-mir-Stehens« fragen muß. Wir alle wissen, wie dünn das Seil ist, auf dem ich tanze, wie leicht man abrutschen kann, wie leicht es reißt. Bodenständigkeit, die mir guttut.
Rüben, Leberwurst und Schlagzeilen
»Weißt du noch, damals, als du vielleicht neun oder zehn Jahre alt warst und wir gemeinsam unsere Felder bestellt haben, ich auf dem großen, du auf dem kleinen Traktor?« Mein Vater lacht.
Wir sitzen bei einer typischen Kärntner »Jausn« auf der Terrasse des Lamisch, Blick in die Karawanken, die sich heute klar und scharfkantig gegen den blauen Himmel abzeichnen.
Stille, von der ich fast vergessen hatte, daß es sie gibt. Kein Autolärm, keine Züge oder Flugzeuge stören die Ruhe, nur ganz leise, aus dem Tal, das Brummen eines Traktors.
Ich nicke. »Ja, und immer, wenn wir uns auf dem riesigen Feld begegnet sind, hast du mit einer vornehmen Geste deinen Hut vor mir gezogen. Das werde ich nie in meinem Leben vergessen. Das gehört zu meinen schönsten Erinnerungen.«
Mein Vater lacht. Das Traktorfahren habe ich mit neun Jahren fast wie selbstverständlich gelernt. Es gehörte auf dem Land einfach dazu, es war etwas, das ich gut konnte und das mir Spaß gemacht hat. Gemeinsam mit meinem Vater habe ich die Felder gepflügt, er mit dem großen, vierscharigen Pflug, ich mit dem kleinen, zweischarigen. Es waren Stunden, in denen ich meinen Vater ganz für mich hatte, Stunden, in denen ich das Gefühl hatte, wirklich gebraucht zu werden.
Ein Feld zu pflügen und zu bestellen - mein Vater hat uns Kinder früh über den tiefen Sinn dieser Arbeit aufgeklärt, über den Kreislauf der Natur, das Zusammenwirken von Mensch und Umwelt, den Respekt, den wir der Natur schulden, ohne die unser Leben undenkbar wäre, und ich bin heute froh über diese Erfahrungen, die mich auf dem Boden halten.
Seltsamerweise sind es Erinnerungen, die völlig losgelöst scheinen von ihrer Zeit, vom Krieg und meiner Angst. Als hätte es damals zwei Welten gegeben, die nichts miteinander zu tun hatten, und eine davon war ganz friedlich. Die Welt »da draußen« schien ihr nichts anhaben zu können.
»Aber weißt du noch, was für eine schwere Arbeit das ›Rübenverziehen‹ war«, füge ich hinzu. »Tagelang saßen wir auf den riesigen Feldern des ›Eixendorfer Bodens‹, alles hat einem weh getan, die Hände, der Rücken, die Sonne hat gebrannt, und manchmal hab ich geglaubt, ich schaffe das einfach nicht mehr.«
Mein Vater nickt. »Ja, aber es mußte eben gemacht werden …«
Onkel Johnny sieht uns fragend an. »Rübenverziehen? Was ist denn das?«
Ernsthaft erklärt mein Vater: »Seltsam, daß du das nicht
kennst … Das ist eine der anstrengendsten Arbeiten, die man auf dem Land zu verrichten hat. Nach der Rübenaussaat wächst in dichtem Abstand meistens mehr als nur eine Rübe. Wenn man der Natur ihren Lauf läßt, bekommt man bei der Ernte kleine, verwachsene, mickrige Rüben, weil jede den anderen die Nährstoffe wegnimmt. Also muß man ein paar Wochen nach der Saat in gebückter Haltung, buchstäblich auf den Knien Furche für Furche über die Felder kriechen - für eine Furche braucht man auf einem großen Feld wie dem Eixendorfer Boden viele Stunden -, muß an jeder Saatstelle die Knollen ein wenig freilegen, nachsehen, wieviele Rüben dort wachsen. Dann muß man die größte stehenlassen, diejenige, von der man sich das meiste verspricht. Die anderen muß man ausreißen und wegwerfen. Sie würden der größten, chancenreichsten nur Nährstoffe und Platz wegnehmen, sich zu entfalten.«
Onkel Johnny unterbricht ihn: »Man opfert also die Schwachen, damit die Starken noch stärker werden? Das paßt gut in die ›Gesellschaftsphilosophie‹ unserer Zeit.«
Mein Vater lacht. »Da hast du
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