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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Deutsch. Von Etappe zu Etappe waren einige gestorben. Im Stehen auf die anderen gesackt, langsam auf den Boden gesunken, auf dem eigentlich gar kein Platz war. Dann, nach Stunden oder Tagen auf Befehl nach draußen geworfen. Manchmal hatte die Verwesung bereits begonnen und Ungeziefer angezogen.
    Dr. Johann Bockelmann beschloß: So durfte er nicht sterben. Nicht auf dieser Fahrt, in diesem Viehwaggon, irgendwo in Rumänien oder Rußland abgelegt. Zumindest die Fahrt mußte er überstehen, irgendwie alle Kräfte mobilisieren, ankommen, wo auch immer das sein mochte.
    Nach dem Ausladen der Toten wurden die Eimer geleert. Sie
waren kaum benutzt. In der Enge waren sie für die meisten unerreichbar. Die Gefangenen, die nicht in ihrer unmittelbaren Nähe standen, hatten keine andere Möglichkeit, als in die Hosen zu machen. Erfahrung von Demütigung, die kaum erträglich war. Und der irreführende Gedanke: »Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Wenn dieser Transport überstanden ist, kann es eigentlich nur besser werden, egal, was mich am Ziel erwartet. Selbst wenn es der Tod ist.«
    Johann Bockelmann muß beinahe zynisch lachen, wenn er heute, zweieinhalb Jahre später, an diese Fehleinschätzung denkt.
    Wenn der Zug hielt, bekamen die Häftlinge schmutziges Wasser zum Trinken und etwas altes Brot, um das Kämpfe entbrannten. Das Überleben konnte davon abhängen, ob man ein Stück davon erringen konnte. Unwürdigkeit, die Johann Bockelmann noch wenige Tage zuvor für unmöglich gehalten hatte.
    Dann, nach einer Weile, hörte man draußen Geschrei auf Rumänisch oder auch Russisch, das Johann Bockelmann wahrscheinlich als einziger der Gefangenen verstehen konnte. Er drängte sich so nah wie möglich an die Tür des Waggons, spähte hinaus:
    »Nein, ich bin kein Deutscher!« Verzweifeltes Flehen auf Russisch.
    »Kannst du das beweisen?« Die zynische Frage der Wächter.
    »Aber ihr habt mir doch gerade meine Papiere abgenommen.«
    Gelächter der Wachsoldaten. »Wir haben gar nichts genommen. Untersteh dich, das noch mal zu behaupten.« Sie zerrissen genüßlich grinsend den Ausweis.
    »Ich bin Rumäne« oder »Ich bin Russe«, »Ich bin Bauer, kein Soldat«, die verzweifelte Erwiderung.
    »Ruhe!« wurde der jeweilige Gefangene angeherrscht, manchmal durch einen Tritt oder Schläge untermauert. »Du bist jetzt ein deutscher Kriegsgefangener. Alles andere interessiert niemanden!« Und es wurden so viele junge rumänische oder russische Bauern, Arbeiter oder wer immer sonst in die Fänge der Wachsoldaten geraten war, in den Waggon gestoßen wie zuvor tot ausgeladen worden waren. Offenbar kam es darauf an, daß die Anzahl stimmte. Diesen Zynismus zu begreifen, ist Johann Bockelmann in den zweieinhalb Jahren, die das nun bereits her ist, nicht gelungen, und wann immer er wieder daran denkt, fühlt er die alte Wut und Verzweiflung
über diese Zeit, die Menschen veranlaßt, so etwas zu tun, wieder in sich aufsteigen. Eine Wut, der er bis heute nichts entgegenzusetzen hatte.
    Diese auf jene unvorstellbar grausame Weise zu »deutschen Soldaten« gemachten Russen und Rumänen kamen von allen Gefangenen am schlechtesten mit ihrer Lage zurecht. Sie weinten, schrien, tobten, verschwendeten sinnlos ihre Kräfte, bis sie irgendwann nur noch wimmerten oder ganz verstummten. Aus dem, was sie herausschrien oder sich gegenseitig verzweifelt schilderten, hatte Johann Bockelmann mitbekommen, daß man einfach in den Dörfern, in denen der Zug gehalten und wo man die Toten ausgeladen hatte, ausgeschwärmt war und wahllos jeden mitgenommen hatte, der einem über den Weg lief, junge Männer auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause, manchmal sogar Bauern von den Feldern. Wichtig war anscheinend immer nur, daß keiner die Entführung sah. Für die Familien mußten unmenschliche, unlösbare Rätsel geblieben sein. Die Angehörigen, Väter, Brüder, Söhne, waren einfach verschwunden, und keiner ahnte, wohin.
    Allein schon deshalb durfte Johann Bockelmann sich auf diesem Transport nicht aufgeben. Sein Tod würde einen weiteren unschuldigen Gefangenen und das Leid einer weiteren Familie bedeuten. Gewissermaßen hielt also diese Grausamkeit der Roten Armee ihn über die Tage des Transports hinweg am Leben …
    Fiebergedanken. Johann Bockelmann kämpft gegen die Krankheit, die seinen Körper immer mehr auszehrt. Schon wenn man nicht von der Ruhr und anderen Seuchen heimgesucht wird, braucht man alle Kraft, um in diesem Lager zu überleben. Krankheit

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