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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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nicht unrecht, aber so funktioniert nun einmal die Evolution, wenn sie nicht sich selbst und dem Zufall überlassen wird, sondern wenn man wirtschaftliche Interessen hat. In der Landwirtschaft muß der Mensch die Evolution ganz gezielt beeinflussen, wenn er guten Ertrag haben und überleben will. Der Schwache wird geopfert.«
    Ich füge hinzu: »Und vielleicht hab ich es auch deshalb so gehaßt, weil ich mich selbst so schwach gefühlt und mich unbewußt mit diesen kleinen, mickrigen Rüben identifiziert habe. Manchmal hab ich übrigens extra die Starken ausgerissen, um zu sehen, was dann aus den Schwachen wird, wenn sie eine Chance bekommen …«
    »Ach, deshalb war in deiner Furche die Ernte oft so schlecht«, scherzt mein Vater.
    Ich schüttle den Kopf. »Du wirst das jetzt nicht glauben, aber ich habe mir immer ein paar der Stellen gemerkt, an denen ich die kleinste Rübe habe stehenlassen. Immer in der äußersten Furche die drei Büsche vor einem der Bäume, die das Feld außen begrenzt haben. Kurz vor der Ernte bin ich nachsehen gegangen und habe die Rüben verglichen - die Stellen, an denen ich die Stärkste hatte stehenlassen und die Stellen, an denen ich der jeweils Schwächsten
eine Chance gegeben habe.« Ich halte inne, alle sehen mich gespannt an, dann erkläre ich mit einem leichten Triumph in der Stimme: »Und die Rüben waren gleich groß!«
    Meine Eltern staunen.
    »Ihr seht also, auch ein schwacher Start ins Leben kann am Ende zu wahrer Stärke führen, wenn man dem Schwachen eine Chance läßt, sich zu entwickeln.«
    Mein Vater nickt fasziniert. »Das ist ja unglaublich interessant! Und das hast du Kerl wirklich gemacht.« Er schüttelt verblüfft den Kopf.
    Meine Mutter meint lakonisch: »Ich glaube, ihr interpretiert da zuviel hinein. Möchte noch jemand Kaffee?« Mein Vater und Onkel Johnny halten ihr ihre Tassen hin. Ich genieße mein Leberwurstbrot.
    Der Geschmack meiner Kindheit: selbstgemachte Leberwurst aus großen Einweckgläsern, frisches Brot von unserer Köchin Sophie, die immer noch bei meiner Familie ist. Fast wie damals Gruscha Tenn, die meinem Großvater sogar in die Verbannung folgte.
    Täglich entdecke ich ein neues, fast vergessenes Stück Kindheit, finde sie in einem Duft, in einem Klang, einem Anblick und »meinem« Baum, der Eiche, die mein Vater, einem alten Brauch folgend, zu meiner Geburt gepflanzt hat. Jeder von uns drei Brüdern hat »seine« Eiche, und sie sind schon erstaunlich groß geworden.
    Schrillen des Telefons. »Bestimmt wieder für dich!«
    Meine Mutter ist etwas genervt, als sie ins Haus geht, um abzunehmen. Seit ich hier bin, klingelt der Apparat öfter als sonst in einem ganzen Monat.
    Mein Vater erzählt davon, wie wir die ersten und einzigen im Dorf waren, die ein Telefon hatten, eines, bei dem man kurbeln mußte. Inzwischen hat natürlich beinahe jeder ein Telefon, man ist sogar dabei, Telefone zu erfinden, die man im Auto einbauen kann, so ist man auch unterwegs immer erreichbar. Ich habe mir so ein Telefon bereits bestellt, werde einer der ersten sein, der in Deutschland eines bekommt, wenn es auf dem Markt ist.
    Gerade wird auch das Farbfernsehen in Deutschland und Österreich eingeführt. Ich werde in der ersten Sendung des Farbfernsehens dabeisein, so, wie ich auch schon bei der ersten deutschen
Fernsehunterhaltungssendung Gast war. Mein Vater hat noch die Erfindung der ersten Radiogeräte erlebt. Seine Mutter Anna, meine »schwarze Omi«, hatte meinen Onkel Werner irgendwann in der Zeit in Schweden sogar entrüstet in sein Zimmer geschickt, weil jener davon erzählt hatte, daß man dabei sei, ein Gerät zu bauen, mit dem man die Berliner Philharmoniker, während sie in Berlin spielen, in Stockholm oder wo auch immer hören könne. So ein Ding würde Radio heißen.
    »Werner, wenn du so einen Unsinn erzählst, dann hast du hier bei Tisch nichts zu suchen. Solch einen Quatsch möchte ich in meinem Haus nicht hören! Geh auf dein Zimmer«, hatte sie damals streng gefordert.
    Wenige Jahre später wurde sie eine der begeistertsten Radiohörerinnen, und inzwischen hat auch sie sogar ein Fernsehgerät, das sie natürlich nicht selbst bedienen kann aber liebt.
    Ziemlich aufgebracht kommt meine Mutter wieder. »Stell dir vor, jetzt rücken diese Reporter schon uns auf die Pelle! Es hat sich herumgesprochen, daß du hier bist, und irgend so eine Frauenzeitschrift will eine ›Homestory‹ hier bei uns mit dir machen. Nicht einmal ein paar Tage Urlaub bei

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