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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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bedeutet hier zwangsläufig akute Lebensgefahr.
    Daß er überhaupt noch lebt, verdankt Johann Bockelmann auch der Tatsache, daß er bisher verbergen konnte, daß er in Moskau geboren wurde. Wer in Rußland geboren wird, gilt dem Staat zeit seines Lebens als Russe. Ein Russe, der auf deutscher Seite gekämpft hat, das wäre Hochverrat und das sichere Todesurteil. Zum Glück hatte er kurz vor seiner Gefangennahme, als die Rotarmisten die Haustür gewaltsam aufbrachen, geistesgegenwärtig seine Papiere zerrissen und in den Ofen gesteckt. Auch wenn er nicht brannte, dort würde in der Hektik sicher niemand nachsehen. Zwar hatte es ihn auch verdächtig gemacht, daß er keine Papiere hatte, denn nur SS-Mitglieder
vernichteten ihre Dokumente. Aber dieser Verdacht war immer noch besser als die sechs tödlichen Buchstaben seiner Geburtsstadt in seinem Paß: »M-O-S-K-A-U«. Da er keine Blutgruppentätowierung auf seinem Arm trug, wie SS-Mitglieder sie hatten, konnte man ihn nicht derartig beschuldigen. Er war zwar strengen Verhören unterzogen, aber bisher am Leben gelassen worden.
    Am schwierigsten war es gewesen, seine Sprachkenntnisse zu verbergen. Mehr als einmal war es vorgekommen, daß der »Dolmetscher« in seinen Verhören seine Antworten bewußt falsch übersetzte und ihn damit belastete. Er mußte es hinnehmen, durfte sich nichts anmerken lassen, durfte auch auf russische Befehle oder Unmutsäußerungen nicht reagieren. Selbstdisziplin, die ihn oft an Grenzen brachte in einer Situation, in der die Kraft und Konzentration von Tag zu Tag dahinschwand.
    Wo genau sich das Lager befindet, weiß Johann Bockelmann bis heute nicht. Irgendwo im Ural, vielleicht auch schon in Sibirien. Aus aufgeschnappten Wortfetzen der Wärter vermutet er, daß es in der Nähe von Charkov, also in der Ukraine, sein könnte, aber genau weiß das keiner. Die Gefangenen kennen nur die Lagernummer, mehr nicht. Die geographischen Details werden vor ihnen geheimgehalten, um Fluchtversuche zu erschweren.
    Daß an eine Flucht nicht zu denken ist, ist aber ohnehin jedem klar: Hunderte Kilometer weit um das Lager herum gibt es kein privates Haus, kein Dorf, keine Infrastruktur. Man müßte sich - geschwächt wie man ist - durch unwirtliche Steppe, durch Eis oder Schlamm kämpfen, ohne Verpflegung, ohne Orientierung. Das ist einfach nicht möglich. Manche versuchen es trotzdem, wissend, daß sie es nicht schaffen werden. In der Hoffnungslosigkeit, in der sie auch den Glauben daran verloren haben, daß es die »Welt da draußen noch gibt«, scheint ihnen die Selbstbestimmtheit solch eines Todes verlockender als das Dahinvegetieren im Lager. Gefühle, die Johann Bockelmann verstehen kann und gegen die er nun schon seit zweieinhalb Jahren immer wieder ankämpft. Er darf das Bewußtsein für die scheinbar verlorene Welt nicht verlieren. Er muß sich an Barendorf erinnern, an seine Familie, seine Mutter, seine Brüder, an das »normale Leben«, das es irgendwo noch gibt, auch wenn es manchmal hinter den Lagergrenzen im Schlamm verschüttet oder im Eis versunken scheint.

    Was für ein Leben. Johann Bockelmann wird demnächst 34 Jahre alt. So etwas wie ein selbstbestimmtes Leben hat er noch nie geführt. Seit er erwachsen ist, herrschen die Nazis, von seinem 26. Lebensjahr an hatte er Kriegsdienst zu leisten. Seine besten Mannesjahre hat er nun hier im Lager verloren, und wenn er sich manchmal, wenn ihm die Haare und der Bart geschnitten werden, in dem fast blinden Spiegel des Lagerfriseurs betrachtet, erkennt er sich beinahe nicht mehr. Er sieht einen alten, dürren Mann mit fahler Haut und beinahe leblosen Augen, die in tiefen Höhlen liegen.
    Wenn er im Krieg nicht soviel Glück gehabt hätte, immer weit von der Front entfernt zu sein, hätte er das Leben eines jungen Mannes überhaupt nicht kennengelernt. Der Geschichte abgetrotzte Erfahrungen der Lebensfreude, die ihm heute wertvolle Erinnerungen sind und ihm Kraft geben. Manchmal muß er sich diese Momente ganz bewußt ins Gedächtnis rufen, um den Bezug zu jener Welt nicht zu verlieren.
    Seine Hand in der Manteltasche berührt den Zeitungssausschnitt. Sofort wird er ruhiger. Wenn es nur endlich Tag werden würde. Richtig hell wird es auch dann nicht, aber er wird dann wenigstens den Ausschnitt genauer betrachten können. Irgendetwas Lesbares wird er darauf sicher finden. Darauf, diesen Ausschnitt anzusehen freut er sich fast sosehr wie auf eine Extraportion Fett, die die Häftlinge ab und zu erhalten

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