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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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oder auf eine Suppe, in der tatsächlich ein winziges, knorpeliges Stückchen Fleisch schwimmt. Ein Glück, das einem alle paar Monate einmal zuteil wird. Oder auf die wenigen ersten Sonnenstunden im Frühling.
    In seinem ersten Winter hatte er, als er wieder mal als Todeskandidat auf der Krankenstation lag, eine in jahrelangem Lagerdienst verrohte Schwester, die etwas deutsch sprach, gefragt, ob es hier eigentlich niemals Sonne gäbe. Sie hatte ihn und seine schmächtige Gestalt mit Kennerblick gemustert und dann wie selbstverständlich gesagt: »Schon scheint hier Sonne, aber du nicht mehr lange genug leben. Du Sonne nicht mehr sehen.«
    Diesen Spruch Lügen zu strafen und noch einmal die Sonne zu sehen, war sein Überlebensehrgeiz für Monate gewesen.
    Hans Thiede, sein Pritschengenosse, wird von heftigen Krämpfen geschüttelt. Johann Bockelmann versucht, ein kleines Stück
von seinem Mantel über ihn zu breiten, ohne selbst der Kälte ausgeliefert zu sein. Hans Thiede ist ihm hier so etwas wie ein echter Freund geworden.
    Thiede klammert sich im Fieberwahn an das Mantelstück. Wenn er bloß nicht stirbt! Er muß diese Nacht überleben, zumindest dies, der Tag wird neue Kraft bringen, sogar hier.
    Johann Bockelmann hat es schon oft erlebt, daß einer seiner Pritschengenossen neben ihm gestorben war. Er war am Morgen schon wohl ein Dutzend Mal neben einer Leiche erwacht. Es waren Erfahrungen, die ein Mensch nicht verarbeiten konnte. »Scheiße!« war das einzige und wohl auch das angemessenste, was man in diesem Moment über die Lippen brachte. Beim ersten Mal hatte er laut aufgeschrien. »Nein! Wach auf!« und den Toten geschüttelt, um ihm vielleicht doch wieder Leben einzuhauchen.
    Die Gefangenen, die schon mehr Erfahrung mit dem Lagerleben hatten, hatten ihn sofort angeherrscht. »Ruhe! Halt doch dein Maul! Du schreist ja hier alles zusammen« und ihm dann ruhiger erklärt: »Für den Toten kann niemand von uns mehr etwas tun. Er ist tot, er hat es hinter sich. Aber wenn wir es geschickt anstellen, können wir das für ein paar Stunden, vielleicht sogar für einen ganzen Tag vor den Wachen geheimhalten, und dann haben wir ein Stück Brot, einen Teller Suppe mehr.«
    Johann Bockelmann war das beim ersten Mal noch so unvorstellbar erschienen, daß er sich weigerte, seinen Anteil an der Zusatzration anzunehmen. Inzwischen war es ihm auf eine grelle und beklemmende Weise selbstverständlich geworden. Er fragte sich, wie sehr er wirklich schon abgestumpft war, wieviel von seiner Menschlichkeit er hier eigentlich schon eingebüßt hatte.
    Aber Hans Thiede durfte nicht sterben. Nicht er! »Thiedegans, halt durch«, flüstert er ihm immer wieder beschwörend zu. Den Spitznamen »Thiedegans« verdankt er der Unfähigkeit der russischen Wachen, ein »H« auszusprechen. Es klang immer wie ein »G«. Bei den Appellen riefen sie immer zuerst den Nach- und dann den Vornamen, was sich bei »Thiede, Hans« anhörte wie »Thiedegans«. Der Name war ihm bis heute geblieben.
    »Thiedegans, halt durch! Wenn es Tag ist, wird es heute richtig warm werden. Es wird die Sonne scheinen. Du wirst richtiges Licht sehen, an dem du dich wärmen kannst. Und dann gibt es ein Festessen.
Wir bekommen echten Kaffee und Suppe, ganz dick vom vielen Fleisch, mit Fettaugen und Nudeln und danach echten Sauerbraten. Ich kann ihn schon riechen. Mit goldbraunen Bratkartoffeln. Sie bereiten es schon vor. Und danach Erdbeeren mit Schlagsahne und so viel Zucker, daß es zwischen den Zähnen knirscht. Mensch, Thiedegans, und es werden uns Weiber besuchen. Schöne, gesunde, gutriechende Weiber mit dicken Titten. Ich weiß es genau …« Johann Bockelmann strengt all seine Phantasie an, um Hans Thiede neuen Lebensmut zu geben. Daß er den Zeitungsausschnitt in seiner Hand spürt, hilft ihm dabei.
    »Gibt es auch Wein?« Nach endlosen Stunden des Wimmerns und Stöhnens die schwache Stimme von Hans Thiede.
    »Natürlich gibt es Wein. Den allerbesten sogar. Einen Bordeaux des besten Jahrgangs. Was denkst du denn? Ohne Wein geht doch bei uns gar nichts. Du willst doch diesen Festtag nicht verpassen, oder?«
    »Nein.« Es klingt noch dünn und angestrengt, aber das Schlimmste ist überstanden, das weiß Johann Bockelmann aus Erfahrung. Ein Mann, der wieder an Essen, Trinken und Frauen denkt, ist nicht verloren.

Träume aus Papier
    Der Zeitungsausschnitt ist zerknittert, von Flecken übersät. Behutsam streicht Johann Bockelmann ihn glatt. Seine Zellengenossen

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