Der Mann mit dem Fagott
kleines Orchester spielt Tanzmusik.
Die Wirklichkeit erscheint ihm bizarr, grell, unverständlich. Menschen unterhalten sich, lachen. Frauen mit Zahnpastalächeln an der Seite von Kavalieren wie sie selbst es damals, in ihren Lagerphantasien, hatten sein wollen. Die meisten seiner Leidensgenossen aus der Baracke waren tot: Sepp Mittergratnegger, Reinhold Diehl, Jens Klausen und sogar der kräftige, bodenständige Herbert Dregger, der »Frauenschwarm«, wie sie alle ihn seit jenem Tag im Lager genannt hatten. Er, Johann Bockelmann, der Schwächste von allen, lebt, und er ist nun wirklich auf einem Ball, wie sie es sich erträumt hatten, ist umgeben von schönen Menschen und Musik. Er versucht, es zu spüren, zu begreifen, doch es gelingt ihm nicht. Er steht etwas verloren herum. Der Frack aus früheren Zeiten ist ihm viel zu weit. Ein Smoking hätte es auch getan, aber sein alter Smoking ist verschollen, also trägt er - als einziger - einen Frack. Die Lackschuhe an seinen Füßen ein Fremdkörper. Immer wieder starrt er sie an und versucht, das Tragen von Lackschuhen irgendwie »normal« zu finden. Fast sechs Jahre lang
hatte er im Lager von richtigen Schuhen geträumt. Richtige Schuhe waren warm und bequem und stabil. Diese Lackschuhe hier aber hatten mit richtigen Schuhen nicht das geringste zu tun. Sie waren purer Luxus. Johann Bockelmann schüttelt den Kopf: vor ein paar Wochen noch hatte er Schuhersatz aus Autoreifen über zerlumpten Fußlappen getragen, dann hatte er von einem toten Freund die Schuhe genommen, und es war ihm selbstverständlich gewesen - Normalität des Lagerlebens, und jetzt hatte er plötzlich Lackschuhe an den Füßen.
Immer wieder kommen alte Bekannte auf ihn zu, Menschen, deren Gesichter und Namen ihm erscheinen wie vage Eindrücke aus einem fernen Leben. Man ist überrascht, überwältigt, ihn zu sehen. Dann weiß man nichts mehr zu sagen. »Wir sehen uns ja sicher noch …«, man zieht sich wieder zurück, und Johnny versucht zu begreifen, warum ein Abend wie dieser im Lager ein Traum war, den sie alle träumten und warum er jetzt, da er hier ist, eigentlich nur noch nach Hause möchte, verloren in einer fremd gewordenen Welt.
Auf der anderen Seite des Raumes ein junges Mädchen, das genauso verloren scheint wie er. Schwarze Haare, zierliche Gestalt und lächelnde Augen, die ihn immer wieder ansehen. Sollte er sie kennen? Soll er sie ansprechen? Sie auf einen Drink einladen? Aber er hat ja kein Geld bei sich. Seine Brüder haben nicht daran gedacht, ihn mit Bargeld auszustatten, und sie danach zu fragen, wäre ihm peinlich.
Das Mädchen wiegt sich leicht im Takt der Musik. Soll er sie zum Tanz auffordern? Aber er kann ja gar nicht tanzen … Ratlos und scheu lächelt er sie an, und als wäre in diesem Lächeln ein ihm selbst fremder Zauber, der Träume erfüllt, kommt sie auf ihn zu.
»Herr Bockelmann! Ich hab schon gehört, daß Sie wieder da sind! Das ist so wunderbar.« Fragend sieht er sie an. »Ich bin Hilde Kleemann, die Stieftochter des Friseurs. Und ich habe durch die Vermittlung Ihres Bruders Gert bei Ihrem Bruder Rudi und Käthe in Kärnten mein Pflichtjahr als Kindermädchen für die drei Buben und Haushaltshilfe gemacht. Wir haben uns damals kennengelernt, aber das ist lange her.«
Dunkel erinnert sich Johann Bockelmann an das junge Mädchen, das er bei Rudi und Käthe auf Ottmanach gesehen hat. Sie
steht gesellschaftlich abseits, ein bißchen wie er selbst seit seiner Rückkehr, das verbindet.
Zum ersten Mal ein Gespräch, das nicht befangen ist, zum ersten Mal eine Sprache, in der er sich frei fühlt und immer wieder ihr Lächeln, das seine Seele berührt.
»Herr Bockelmann, wollen Sie vielleicht tanzen?« Ungezwungen fordert sie ihn auf, und plötzlich erscheint es ihm richtig zu sein, zu tanzen - abgemagert, wie er ist, mit dem viel zu großen Frack, den seltsamen Lackschuhen und den beiden linken Füßen.
Eine Berührung, die ihm Wärme und Halt gibt und das Gefühl, in der Musik zu schweben. Man tanzt und tanzt. Sein Freiheitstanz. Schmetterlinge in seinem Bauch und der Wunsch, daß dieser Augenblick niemals endet.
Erinnerungen an seine Sehnsucht nach einem Abend wie diesem - und nach der großen Liebe, die er noch nicht kannte. »Wer nie geliebt hat, hat nicht gelebt.« Der Satz seines Vaters, der ihn verfolgt hatte. Ob es sich so anfühlt wie dieser Tanz?
Zum ersten Mal ein tiefes Gefühl von Heimat und Ruhe und Angekommensein, getragen von einem langsamen
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