Der Mann mit dem Fagott
nur immer weiter geradeaus gehen. Nach Jahren, in denen seine Schritte durch Lagerzäune eingesperrt waren und er nur im Kreis gegangen war - wenn er überhaupt die Kraft aufgebracht hatte zu gehen, spürt er jetzt, wie seine Lebensgeister wieder erwachen.
Daß er nun endlich mal wieder allein ist, tut ihm unendlich gut. Er muß zu sich finden.
Die Schachtel, den Mantel, den er sechs Jahre lang am Leib getragen hatte, die zerschlissene Hose, das einzige Hemd, das er bei sich hatte, die unendlich wichtigen Fußlappen, die »Fuß-Autoreifen«, die zerlumpten Schuhe von Jens Klausen haben Werner, Gert und Pascha ihm ein paar Tage später abgenommen. Aller Widerstand war zwecklos gewesen.
»Du brauchst das nicht mehr. Du bekommst hier alles, was du willst …«, hatten sie immer wieder behutsam auf ihn eingeredet.
»Aber meine Bindschnur«, hatte er verzweifelt versucht, ihnen die lebensnotwendige Bedeutung des Stückchens Schnur zu erklären,
»die brauche ich doch für meine Brille. Oder um meine Hose festzuhalten.«
»Du bekommst richtige Schuhe, eine neue Brille, neue Hosen und Gürtel, so viele du willst. Du brauchst die Schnur nicht. Und die kaputte Brille brauchst du auch nicht mehr.« Er hatte es nicht begreifen können.
»Aber mein Messer«, hatte er versucht, ein Stück Holz zu retten, aus dem er sich einen Messerersatz gebastelt hatte. »Ich brauche doch noch mein Messer!«
Gert hatte ihn in die Küche geführt, hatte Schubladen aufgezogen, die voll mit glänzendem, silbernem Besteck waren. »Sieh doch, es ist alles da: Messer, Gabeln, Löffel, auch Teller, Tassen, Gläser, mehr als wir eigentlich brauchen können. Das gehört alles auch dir. Du brauchst das vergammelte Holzmesser nicht mehr!«
»Aber meinen Zeitungsausschnitt«, hatte er den zerknitterten, vergilbten, schmutzigen Schnipsel verteidigt, den er vor Jahren im Lager gefunden und der ihm so viele Stunden und Tage lang Hoffnung und eine Beschäftigung gegeben hatte.
»Diesen Fetzen hier meinst du?«
»Ja! Das ist meine Zeitung. Die möchte ich als Erinnerung behalten!«
»Dann tu das«, hatte Werner gemeint. »Aber wir haben eine ganze Bibliothek voller Bücher. Und hier …« Er hatte ihm die aktuelle Tageszeitung gereicht. »Wir bekommen täglich eine neue Zeitung, und ich kann dir jede, die du haben willst, besorgen.«
Es waren für ihn schwer zu begreifende Stunden gewesen, als man seinen wertvollsten und einzigen Besitz verbrannte, aber auch Stunden des Neubeginns.
In den neuen Sachen hat er heute zum ersten Mal seit seiner Rückkehr das Haus verlassen. Die ersten Tage hatte er fast nur in seinem Bett gelegen. Man hatte ihn aufgepäppelt. All die Köstlichkeiten, die er am liebsten essen wollte, sobald er frei sei, konnte er noch nicht vertragen. Feste Nahrung war zuviel für seinen ausgehungerten Magen. Tagelang hatte er Brei bekommen, dazu Zwieback, mal eine Suppe mit richtigen Nudeln, ein wenig Brot.
»Ihr geizt ja mit dem Essen fast so wie die Russen im Lager«, hatte er gescherzt und tapfer versucht, die so unendlich wichtige und so lange vermißte Nahrung bei sich zu behalten.
So waren Tage und Wochen vergangen. Langsam war er wieder etwas zu Kräften gekommen.
Heute hatte sein Bruder Gert ihn gefragt: »Möchtest du nicht mal einen kleinen Spaziergang machen? Wenn du das kleine Stück zum Friedhof am Waldrand gehst wie früher so oft, vielleicht würde dir das guttun.«
Eine Frage, die ihn ratlos gemacht hatte wie alle Fragen nach seinem Willen. Es fällt ihm schwer, Entscheidungen zu treffen, und seien sie auch noch so klein, plötzlich nach so vielen Jahren der Fremdbestimmtheit wieder aus so vielen Möglichkeiten zu wählen. Er hatte einfach nur »ja« gesagt, als Gert ihm den Vorschlag mit dem Spaziergang gemacht hatte.
Er hatte wie selbstverständlich, von Gerts Rat und einer alten Gewohnheit geleitet, den Weg zum Friedhof eingeschlagen. Dort lag auch das Familiengrab der Bockelmanns, das Anna vor einiger Zeit eingerichtet hatte, um hier irgendwann mit ihren Söhnen zu liegen.
Heinrich war hier nicht beerdigt. Man hatte ihn in Meran beigesetzt, wie Johann Bockelmann inzwischen erfahren hatte. Ein einziges Grab war bereits belegt. Von einem Kind. »Mischa Bockelmann« stand da, »7. 1. 1939 bis 29. 3. 1946«. Johann Bockelmann war zutiefst erschrocken. »Mischa! Mischa ist gestorben?« hatte er entsetzt wie zu sich selbst und doch laut ausgesprochen.
»Johnny? Johnny Bockelmann! Bist du es wirklich?« hörte er
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