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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Kopfschütteln ein wenig panischer werdend, Heimkehrer, die jedem auf dem Bahnsteig ihren Namen nennen, fürchtend, man werde sie nicht erkennen, sie übersehen, sie aufgeben. Andere, die sich finden. Schreie des Glücks und des Entsetzens, Glück und Verzweiflung. Ein Durcheinander von Stimmen und Emotionen. Wer von niemandem abgeholt wird, wird sanft von Rotkreuzschwestern beiseite genommen und versorgt. Es kann das Gefühl der Einsamkeit nicht besiegen.
    Johann Bockelmann hatte während der Fahrt nicht viel darüber nachgedacht, ob ihn jemand abholen werde und was geschähe, wenn nicht. Jetzt ist er unendlich froh, hier nicht zurückbleiben zu müssen, und er fühlt vielleicht deutlicher denn je in seinem Leben, was es bedeutet eine Familie zu haben, Geborgenheit, Schutz zu genießen, sich in ihren Schoß - und in die Arme seines Bruders - fallenlassen zu können.
    »Was hast du denn da? Gib mal her!« Werner will ihm seine Schachtel und seinen Becher abnehmen. Sie ist alles, was er außer dem, was er auf dem Leib trägt, besitzt, alles, was ihm im Lager das Überleben ermöglicht hat.
    Johann Bockelmann hält es fest, klammert sich daran. »Nein! Das brauche ich noch! Nein, bitte nicht!« Entsetzen in seinen Augen. »Das ist doch alles, was ich habe.«
    »Aber zu Hause wartet doch alles auf dich, was du brauchst. Die Schachtel brauchst du doch nicht mehr. Vertrau mir!«
    »Nein!« Johann Bockelmann kämpft mit all seiner ihm noch verbliebenen Kraft. Werner sieht ein, daß es keinen Sinn hat und
läßt ihm seinen Schatz. Vielleicht wird es ihm leichter fallen, sich davon zu trennen, wenn sie erst einmal zu Hause sind, in Barendorf, wenn Johnny sieht und am eigenen Leib erfährt, daß er das, was immer in der Schachtel sein mag, nicht mehr braucht.
    »Evi? Wo ist meine Evi?« Plötzlich ist Lars Baumann neben ihnen. »Ich finde meine Evi nicht. Evi!« ruft er, so laut er kann, über den Bahnsteig.
    »Kommen Sie. Wie heißen Sie denn?« Eine Schwester nimmt sich Baumanns an. »Wenn Sie mit mir mitkommen, kann ich aufschreiben, wer Sie sind, kann Sie bei uns unterbringen, und wenn Sie jemand sucht, kann er Sie so am besten finden. Vertrauen Sie mir … Bitte …«
    Lars Baumann sieht Johann Bockelmann hilflos an, als könne der Freund etwas für ihn tun. Werner erfaßt die Situation, gibt der Schwester seine Nummer. »Falls wir irgendwie helfen können.« Er bittet sie um Informationen, wo man den Freund seines Bruders erreichen könne, bekommt von ihr ein bedrucktes Informationsblatt, auf den sie ihren Namen und eine Nummer schreibt.
    »Danke, Schwester Gisela«. Sie bringt Lars Baumann weg, der am Ende seiner psychischen Kraft hartnäckig immer wieder versucht, ihr zu erklären, daß seine Frau Eva Baumann heißt und in Aschaffenburg wohnt und daß sie einen Sohn haben, den kleinen Fritz.
    »Warum ist sie nicht da?« fragt er im Weggehen noch einmal Johnny, der nur ratlos mit den Schultern zucken kann.
    »Sie wird schon noch kommen«, meint er leise.
    In einigen Metern Entfernung erblickt er Thiedegans und Adolf Sterzig, die einander zum Abschied umarmen, umgeben von Menschen, die offensichtlich ihre Angehörigen sind. Johann Bockelmann winkt ihnen zu, doch sie sehen es in all dem Wirbel nicht.
    Plötzlich schwillt das vorher vereinzelte und kaum beachtete Knallen von Feuerwerkskörpern zu einem infernalischen Lärm an. Leuchtfeuer entzünden den Himmel.
    »Es ist Mitternacht«, sagt Werner ruhig.
    »Ja …«
    »Ich wünsche dir ein frohes neues Jahr!« Werner sagt es sanft, drückt seinen Bruder an sich, und Johann Bockelmann treibt der Satz die Tränen in die Augen, ohne daß er eigentlich wüßte, warum.
Es liegt soviel Hoffnung in diesem Satz, soviel Wärme, soviel von all dem, was Johann Bockelmann nie mehr zu erleben glaubte.
    »Wollen wir jetzt nach Hause fahren?« Werners Frage, als Johnnys Tränenstrom ein wenig versiegt ist. Sie macht Johann Bockelmann ratlos. Sechs Jahre lang hat er nur gebrüllte Befehle gehört. Nie hat ihn jemand gefragt, was er möchte. Jetzt ist ihm die kleine, eigentlich unbedeutende Frage vollkommen fremd.
    »Ja dürfen wir das denn?« Die einzige leise Antwort die er zustande bringt.
    »Natürlich. Du bist jetzt frei! Du darfst alles!«
    »F-R-E-I« pocht es in Johann Bockelmanns Kopf, und das Wort sucht nach seiner Bedeutung.

Freiheitstanz
    Gehen, einfach nur gehen. Geradeausgehen. Johann Bockelmann kennt keinen anderen Gedanken mehr, kein anderes Lebensgefühl. Er will einfach

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