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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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plötzlich eine Stimme hinter sich. Als er sich umdrehte, stand Heiner Nettelbeck, der alte Gärtner des Ortes vor ihm. »Mensch, Johnny! Daß ich dich noch einmal sehe! Was haben sie denn mit dir gemacht?« Er faßte ihn an beiden dünnen Handgelenken.
    »Die Russen haben mich auf Sommerfrische geschickt, und sie wollten mich gar nicht wieder gehen lassen, so lieb haben die mich gehabt.«
    Heiner Nettelbeck, der von allen kurz »Hein« genannt wurde, wußte offenbar nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Seit wann bist du denn wieder da?«
    »Seit Silvester, Hein. Pünktlich zum Jahreswechsel.«
    Hein hatte genickt und war dann Johnnys Blick zum Kindergrab von Mischa gefolgt. »Ja, ja, eine tragische Geschichte.«
    »Was um Himmels willen ist denn passiert?« Johann Bockelmann sah Nettelbeck eindringlich an.

    »Sag bloß, du wußtest es noch nicht?« antwortete dieser zögernd. Es war ihm sichtlich unangenehm, die Rolle des Aufklärers spielen zu müssen. Er erzählte die Geschichte von der Granate und dem verspäteten Kriegstod von Werners Sohn so sachlich und ruhig wie möglich, und Johann Bockelmann brauchte lange, um es zu begreifen. »Mischa, der kleine Mischa. Das darf es doch einfach nicht geben! Was ist das nur für eine Zeit!« murmelte er vor sich hin. Der Gärtner begleitete ihn ein kurzes Stück, erzählte ihm vom aktuellen Dorfklatsch. Und von seinen eigenen beiden im Krieg gefallenen Söhnen und dem dritten, dem Jüngsten, der in den Ardennen ein Bein verloren hatte. An einer Lichtung verabschiedete er sich und kehrte um. Johnny aber wollte weitergehen. Es war ein spontaner Gedanke, ein unwiderstehlicher Wunsch, der erste freie Gedanke seit er wieder zu Hause war: Der Weg führte von hier aus schnurgerade durch Wälder, Wiesen und Felder, und dieser gerade Weg übte eine unwiderstehliche Anziehung auf ihn aus. »Nur noch ein kleines Stückchen geradeaus, nur noch nicht umkehren müssen …«
    Gehen, einfach immer weiter geradeaus gehen. Das ist alles, was er in diesem Moment will. Er genießt die Weite des Blicks über die Felder, das milde Licht des späten Winternachmittags, den Duft nach Erde und feuchtem Holz und Freiheit. Er spürt die neuen Schuhe an seinen Füßen. Richtige, feste, warme Schuhe, echte Strümpfe, warme Hosen, Pullover, den neuen Mantel. Man hat ihn eingekleidet. Nur einen neuen Anzug wollte er sich nicht kaufen lassen. »Nein, ich trage nur noch Anzüge von meinem Freund Adolf Sterzig«, da war er hart geblieben.
    Geradeaus gehen. An den Rückweg denkt er nicht. Er hat so vieles zu verarbeiten. Und zu verstehen. Sein Bruder Werner hatte mit Schwester Gisela im Auffanglager Friedland telefoniert. Lars Baumanns Evi war gefunden worden. Sie trug inzwischen einen anderen Namen, hatte Lars für tot erklären lassen und einen anderen geheiratet, hatte noch zwei Kinder mit ihrem neuen Mann bekommen. Daß Lars noch lebte, hatte sie beinahe in Panik versetzt und ihr mühsam aufgebautes neues Glück in seinen Grundmauern erschüttert. Sie wolle Lars nicht sehen, war ihre Antwort gewesen, sie könne das jetzt einfach nicht. Lars Baumann saß seither nur noch apathisch herum. »Warum bin ich nicht im Lager gestorben? Warum haben die mich nicht einfach erschossen?«

    Inzwischen ist es dunkel geworden. Johann Bockelmann ist von der schnellen Finsternis überrascht worden, und der ungewohnte Spaziergang hat ihn erschöpft. Ratlosigkeit. Wird er genug Kraft für den Rückweg haben? Ein Anflug von Angst. Was soll er tun?
    Langsam nähert sich ihm von hinten ein Auto. Die Scheinwerfer erhellen die Bäume. Erschrecken, Unfähigkeit, diese Eindrücke einzuordnen. Der Wagen fährt im Schrittempo neben ihm her, ohne zu überholen. Johann Bockelmann schaut ängstlich in den Wagen. Am Steuer sitzt Gert. »Mensch, Johnny! Was machst du nur für Sachen! Du bist seit fast einer Stunde weg. Wir haben uns Sorgen gemacht!« »Ich wollte doch nur geradeaus gehen …«
    Nachts ein wirrer Traum von bizarren Landschaften, schnurgeraden Wegen über den Horizont, Schuhen, die ihm von den Füßen gerissen werden, Suchscheinwerfern in der russischen Öde, seine Brüder in russischen Uniformen, die ihm seine Schachtel abnehmen wollen, die immer wiederkehrende Frage »Was willst du?«, die er beantworten muß, wenn er die Freiheit will - wie der Lohn für die richtige Lösung eines unlösbaren Rätsels.
    Zwei Tage später ein Ballsaal in Lüneburg. Bühnenball. Strahlendes, festliches Licht umfängt ihn, ein

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