Der Mann mit dem Fagott
der Lebensfreude, die es so bisher nie wieder gab.
Berlin - schon bei der Nennung dieses Namens huscht bis heute ein Lächeln über die Gesichter meiner Eltern, und so, wie sie Berlin zuletzt im Februar 1945 erlebt haben - zerbombt, brennend, in Trümmern liegend -, so sollten sie »ihre« Stadt nicht in Erinnerung behalten, habe ich beschlossen und ihnen eine Reise hierher zu ihrer goldenen Hochzeit geschenkt. Es wird vielleicht die letzte größere Reise sein, die mein Vater in seinem Leben noch wird unternehmen können. Er ist in den letzten Jahren stark gealtert, abgemagert,
von einer Herzkrankheit gezeichnet, schwach und mit seinen inzwischen 76 Jahren nicht mehr gut auf den Beinen.
Das Sterben der Vätergeneration, das 1968 mit Werners Unfall begonnen hat, hat sich schnell, heftig, beklemmend und eine unauffüllbare Leere hinterlassend fortgesetzt: Nur drei Jahre nach Werner ist Erwin 1971 im Alter von 68 Jahren an einem schweren Asthmaanfall qualvoll gestorben, und auch Gert hat 1975, mit nur 66 Jahren, seine schwere Lungenkrankheit nicht überlebt. Seither wird das Gut Barendorf von seiner zweiten Frau Elke geführt. Meine »schwarze Omi« Anna hat meinen Onkel Werner, den ersten der fünf Brüder, der starb, nur um etwas mehr als zwei Monate überlebt, ist im Juni 1968 im Alter von 85 Jahren gestorben.
Von den fünf Brüdern sind also nur noch zwei am Leben - Onkel Johnny, der jüngste, der nach den schrecklichen Erlebnissen in der Kriegsgefangenschaft gesundheitlich schwer angegriffen ist, und mein Vater Rudi, dem Alter und Krankheit deutlich anzusehen sind. Man sieht, daß die Zeit bereits nach ihm gegriffen hat.
Die Reise hierher war beschwerlich für ihn, doch seit er in Berlin ist, glänzen seine Augen wieder wie früher.
Wir sind gleich hier, in der Köthener Straße verabredet. Ich habe einen Wagen organisiert, der sie herbringen wird, möchte ihnen das Studio zeigen, mit ihnen an einem der kleinen Tische des hauseigenen »Straßencafés« mitten auf dem Bürgersteig einen Kaffee trinken und hoffe insgeheim, daß sie den Potsdamer Platz gegenüber und »ihr« Haus Vaterland am besten gar nicht mehr wiedererkennen.
Das kleine Mädchen zielt mit dem Gummiball immer wieder auf das bunte Graffito, das einen Sonnenaufgang hinter Stacheldraht zeigt. Die Sonne scheint das Zentrum zu sein, auf das sie spielt, nach dem sie ihr Geschick bewertet. Sie wird von den Wachsoldaten auf dem Turm beobachtet, doch es kümmert sie nicht.
Eine vorzeitig gealterte Frau mit lila Rock und grünem Pullover geht mit schwerem Schritt über den staubigen und holprigen Potsdamer Platz, auf einem der Trampelpfade durch eine chaotisch-bizarre Landschaft. Sie geht diesen unbefestigten Weg wohl um ihren Heimweg abzukürzen, links und rechts mit Einkaufstüten bepackt und von den Grenzern mit ihren Ferngläsern beobachtet. Sie hält auf das Haus neben dem Studio zu, erschöpft, müde von
einem freudlosen Tag, an dem keine Kleinigkeit ohne Mühe war, und verschwindet in der Tür.
Es ist eine Gegend am Rande der westlichen Welt, hier leben Menschen am Rande des Erfolges, diejenigen, denen günstige Mieten wichtiger sind als repräsentatives Wohnen, eine buntgemischte Szene aus Arbeitern, Studenten, Arbeitslosen, Gastarbeitern. Hier hat niemand etwas zu verschenken. Auf der Köthener Straße gibt es nicht einmal Bettler. Das lohnt sich hier nicht. Man bettelt lieber auf dem Kurfürstendamm oder in den Straßen um die Gedächtniskirche, nicht hier.
Ich versuche, mir Berlin ungeteilt vorzustellen, und es will mir nicht so recht gelingen. Ich war zehn, als ich das einzige Mal in der noch geeinten Stadt war - damals, auf unserer Flucht nach Norddeutschland. Erinnern kann ich mich an den Einbeinigen mit dem traurigen Pferdegespann, der uns zum Haus meines Großvaters brachte, an das Flackern der brennenden Stadt, die zerstörte Gedächtniskirche, die Sirenen und natürlich den Mann mit dem Fagott, den wir damals aus Opas Villa am Grunewald geholt und gerettet haben, wenige Stunden bevor das Haus in einem neuen Bombenangriff zerstört wurde.
Bei meinen nächsten Besuchen in den fünfziger Jahren, als ich mit Anfang Zwanzig immer wieder Rundfunkaufnahmen mit Werner Müller am RIAS und mit dem Orchester William Greiff für den Sender Freies Berlin gemacht habe, war Berlin bereits geteilt und in jeder Hinsicht zwiespältig: elegant und mondän in der Gegend um den Kurfürstendamm und heruntergekommen und armselig in den Gegenden nahe
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