Der Mann mit dem Fagott
der Mauer das Hansa-Studio liegt, in dem internationale Künstler ihre Schallplatten produzieren und in dem auch ich seit einigen Jahren meine Alben aufnehme, erscheint fast wie eine Ironie der Zeitgeschichte. Wann immer wir von unserer Studioarbeit aus dem Fenster blicken, sehen wir die Mauer, den Todesstreifen, den
Wachtturm, Soldaten. Wer hier arbeitet, kann die gewaltsame Trennung der Welt niemals vergessen. Man wird pausenlos daran erinnert und hat gelernt, das Erschrecken und Entsetzen zu verdrängen.
Ein kleines Mädchen schlägt immer wieder einen kleinen roten Ball mit einem Holzschläger gegen die Mauer, eine Art »Hinterhoftennis«. Der »Eiserne Vorhang« für die Kinder im Westen eine Selbstverständlichkeit, die man ins eigene Spiel integriert. Man hat sich in dieser trostlosen Normalität eingerichtet. Seit beinahe achtzehn Jahren steht diese menschenverachtende Trennlinie zwischen West und Ost nun bereits, das kleine Mädchen kennt es nicht anders. Es hat Berlin niemals als die pulsierende, moderne, lebendige, vereinte Stadt aus der Zeit vor dem Krieg erlebt. Es kennt den Potsdamer Platz, den die Köthener Straße nach einer Seite begrenzt und die Mauer nach der anderen, nur als Trümmerfeld: Schutthaufen und Häuserreste aus dem Zweiten Weltkrieg, ein Platz voll von Steinen, Geröll, Schmutz. Dazwischen wachsen wilde Gräser, Gänseblümchen, Moose. Als wäre der Krieg gerade erst wenige Monate und nicht bereits vierunddreißig Jahre vorbei. Anscheinend hat die Stadt noch kein Konzept, wie man mit diesem Platz am Rande der westlichen Welt umgehen soll und läßt ihn einfach brachliegen - in der Hoffnung auf bessere Zeiten. Und man vergißt, daß hier früher einmal einer der gesellschaftlich und kulturell bedeutendsten Plätze Europas war: Restaurants, Straßencafés, Theater, Kinos, Feste, Tanzveranstaltungen, Varietés. Tag und Nacht eine Lebendigkeit, die den Vergleich mit keinem Platz der Welt, keiner Stadt der Welt zu scheuen brauchte.
Wie werden meine Eltern wohl den Anblick dieses Potsdamer Platzes aufnehmen - so, wie er sich heute präsentiert? Berlin, das war für meine Eltern Zeit ihres Lebens ein Synonym für Freiheit, Jugend, Liebe, Musik, Kultur, Leben. Wann immer es möglich war, sind sie ihrem Alltag in der Lüneburger Heide entflohen und für ein Wochenende oder einige Tage nach Berlin gefahren, um das Leben und ihre junge Liebe zu genießen. Sie haben den großen Salonorchestern der zwanziger Jahre gelauscht und im »Haus Vaterland«, im »Meistersaal« oder im »Wintergarten« im heutigen Ostteil der Stadt zur Musik von Barnabas von Gečy und George Boulanger getanzt. Der »Meistersaal« im Erdgeschoß des Hauses,
in dessen viertem Stock heute das Hansa-Studio beheimatet ist, wird heute vom Studio für Aufnahmen genutzt. Der Charme und die einstige Bedeutung als Bühne für alles, was in den zwanzigerund dreißiger Jahren Rang und Namen hatte läßt sich kaum noch erahnen. Und das »Haus Vaterland«, genau gegenüber des Studios, auf der anderen Straßenseite, am Rande des Potsdamer Platzes ist ohnehin nur noch ein Schutthaufen. Schwer vorstellbar, daß dort früher das Leben pulsierte.
Es war damals eine Zeit, in der alles im Chaos lag. Die Folgen des Ersten Weltkriegs zwangen Deutschland in die Knie, in Amerika herrschte die größte Wirtschaftskrise, die die Welt je gesehen hatte. Deutschland wurde von einer schwindelerregenden Rezession, von Massenarbeitslosigkeit, politischen Umstürzen und öffentlichem Chaos beherrscht, aber wann und wo auch immer es einen Anlaß zum Feiern gab, hat man gefeiert wie später niemals mehr. Man lebte im Jetzt und Hier, man tanzte, man lachte, man liebte das Leben, gerade weil die Zukunft so unvorstellbar war, weil man nur die Gegenwart hatte, die Musik und die Liebe. Das Geld, das man heute verdiente, war morgen sowieso nichts mehr wert, also gab man es aus, als gäbe es kein Morgen. Irgendwie würde es schon weitergehen, so war die Stimmung.
Meine Eltern hatten an ihr teil und waren ihr doch niemals ganz ohne Sicherheitsnetz ausgeliefert. Mein Vater machte eine landwirtschaftliche Ausbildung, und sein Vater Heinrich hatte die finanziellen Weichen rechtzeitig so gestellt, daß die Familie abgesichert war. Man würde also niemals ganz ins Bodenlose fallen. Und wenn die Welt unterging, nun, dann ging sie eben unter, dann konnte man auch nichts daran ändern, und man würde wenigstens tanzend und gemeinsam untergehen. Eine seltsame Dekadenz
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