Der Mann mit dem Fagott
gerade liegende Kranzschleife glattgestrichen hat, meint er leise: »Komm, laß uns zurückgehen. Hier fühle ich mich Werner auch nicht näher als an einem anderen Ort. Er hat so fremd ausgesehen, wie er da lag, ohne seine Brille. Ich habe ihn erst gar nicht erkannt.«
Mein Vater schluckt schwer.
Langsam gehen wir zurück, vorbei an dem Wäldchen, in dem ich mit meinen Cousins als Kinder im letzten Kriegsjahr Bunker gegraben habe, vorbei an jenem Tor, an dem die belgischen Soldaten den Kollaborateur gefoltert und erschossen haben, der Stelle, an der ich die »Tausend Panzer«, bei Kriegsende aus dem Wald habe kommen sehen, der Stelle, an der mein Vater im September 1946 plötzlich stand, anderthalb Jahre, nachdem wir ihn zuletzt gesehen hatten, und uns zurück nach Ottmanach holte. Barendorf - ein Ort, der mit unserer Familie und meiner Erinnerung untrennbar verbunden ist.
»Jetzt hat also in meiner Generation das Sterben begonnen«, meint mein Vater leise und mit bemüht ruhiger Stimme. »Die Phalanx der fünf Brüder ist auseinandergerissen, und meine Generation muß sich nun darauf vorbereiten, die Verantwortung langsam an euch Jüngere abzugeben. Ich bin 64 Jahre alt, da hebt man nicht mehr die Welt aus den Angeln. Werner hätte es noch gekonnt, wenn überhaupt einer von uns. Erwin hat Gewaltiges bewegt, aber sein Gesundheitszustand zeigt allzudeutlich seine Grenzen auf,
und auch Gert ist in einer schrecklichen gesundheitlichen Verfassung. Und Johnny, der immer der schwächste war, ist jetzt noch der stärkste von uns, aber die Jahre, in denen ein Mann sonst Großes leistet, hat er in russischer Gefangenschaft zugebracht und hat all seine Kraft eingesetzt, um zu überleben. Er wird keine Bäume mehr ausreißen« Mein Vater schluckt. »Das müßt jetzt ihr Jungen übernehmen …« Er macht eine nachdenkliche Pause. »Und seltsamerweise ist es für mich auch gar nicht mehr wichtig, was ich vielleicht noch bewege oder nicht, das wird mir gerade an einem Tag wie heute richtig bewußt. Aber was ihr drei Jungs bewegen und auf die Beine stellen werdet, darauf freue ich mich, das berührt mich. Ob mir sonst irgendetwas in meinem Leben wirklich gelungen ist, weiß ich nicht so genau, ich denke manchmal, ich hätte mehr voranbringen müssen. Aber auf euch drei Söhne bin ich wirklich stolz.«
Ich lege meinen Arm um seine Schultern. »Noch seid ihr vier Brüder da, noch liegt die Zukunft auch in eurer Hand, und wir werden noch ein großes Stück gemeinsam gehen. Noch bist du sehr lebendig, und deine drei Brüder auch.«
Sein Blick fällt auf das provisorische Holzkreuz mit Werners Namen. »Verdammt!« Er hat Tränen in den Augen. Schweigend gehen wir die letzten Schritte.
Ich friere, ziehe den Mantel fester um meine Schultern, lausche den Geräuschen der Nacht, unserem Atem, dem Herannahen und sich wieder Entfernen eines Autos, das Richtung Lüneburg fährt, den Stimmen eines lachenden jungen Pärchens, das von irgendwoher wahrscheinlich auf dem Heimweg ist und dem Rhythmus unserer Schritte, die uns auf das Licht der Villa zuführen, einem neuen Tag entgegen. Und einer Zukunft, die keiner von uns voraussehen kann, die Schweres und Leichtes für uns alle bereithalten wird und der wir uns stellen werden, was immer sie mit uns vorhat.
25. KAPITEL
Berlin, 25. und 26. Juni 1979
Träume in Trümmern
Der Wachtturm im Todesstreifen direkt hinter der Mauer reckt sich schlank in den hellblauen Sommerhimmel über Berlin. Eine Säule aus grauem Beton im Niemandsland, einige Dutzend Meter hinter der Außenmauer und dem Stacheldrahtzaun, darauf eine Plattform. Zwei junge DDR-Grenzsoldaten mit Ferngläsern beobachten die Köthener Straße im Westteil der Stadt. Eine bizarre Grenzlandschaft, unwirklich, erschreckend, grau und für die Berliner doch irgendwie inzwischen »normal«.
Die Köthener Straße am Rande des Potsdamer Platzes ist eine Straße der typischen Berliner Art. Sie läuft schnurgerade einige hundert Meter direkt auf die Mauer zu und wird dann von ihr abgeschnitten. Hier ist nicht einmal ein Grenzübergang, nur diese Mauer, dahinter der Todesstreifen und der Wachtturm. Hier, auf dieser Straße, die ins Nichts führt, fährt selten ein Auto. Und wenn, dann wird es von den Grenzsoldaten ins Visier genommen und nicht aus den Augen gelassen, bis es irgendwo geparkt wird oder wendet und wieder verschwindet. Abwechslung im sicher öden Alltag der Beobachter.
Daß ausgerechnet hier, in dieser Köthener Straße am Rande
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