Der Mann mit dem Fagott
Witwe und die Söhne.
»Weißt du, Werner hätte übernächste Woche nach Berlin fahren sollen zu einem Treffen mit Willy Brandt. Es sollte unter anderem um die neuen ›Notstandsgesetze‹ gehen, um den Umgang mit der APO und dergleichen mehr. Und man wollte besprechen, welche Rolle Werner nach der Bundestagswahl im nächsten Jahr eventuell hätte spielen können, falls die SPD gewinnt. Willy Brandt wollte ihn wohl als Minister im Kabinett. Werner hat aber anscheinend mehr Interesse daran gehabt, deutscher Botschafter in Moskau zu werden. Das wäre sein Herzenswunsch gewesen.« Mein Vater hält inne und schüttelt langsam nachdenklich den Kopf. »Es ist kalt.«
Ich nicke. »Möchtest du zurückgehen?«
»Nein, noch nicht. Ich brauche das jetzt. Bei dieser Beerdigung, bei der man so vereinnahmt wird von der ›öffentlichen Trauer‹ konnte ich nicht Abschied nehmen.« Er macht eine Pause, »Und ich glaube, ich hab es immer noch nicht begriffen. Das ›Fünf-Brüder-Treffen‹, das wir im letzten September zu Werners 60. Geburtstag gefeiert haben, wird also das letzte gewesen sein. Nun sind wir nur noch vier.«
»Möchtest du allein sein?«
»Nein. Ich bin froh, daß du hier bist.«
Ich schweige. Ich bin gerade erst aus Berlin gekommen, hatte dort Aufnahmen für eine Fernsehsendung. Zur Beerdigung habe ich es nicht geschafft, und beinahe hätte ich überhaupt nicht mehr
kommen können, denn in Berlin war heute wegen des Dutschke-Attentats die Hölle los.
»Dieses Attentat … Es hat auch hier alles aufgewirbelt«, meint mein Vater nachdenklich. Ich sehe ihn abwartend an. »Es hätte beinahe einen Eklat in der Familie gegeben. Gert hat, als das Thema darauf kam, laut gesagt: ›Es wundert mich überhaupt nicht, daß auf diesen Dutschke geschossen wurde. Der ist doch selbst schuld. Wer Wind sät, wird Sturm ernten‹. Andrej und Martin, Werners ältere Söhne, die natürlich mit Dutschke und der APO sympathisieren, haben daraufhin einen fürchterlichen Streit mit Gert angefangen. Sie haben ihn bezichtigt, mit solchen ›faschistoiden Sprüchen‹ auch das Andenken Werners zu beschmutzen, der die Bewegung um Dutschke durchaus positiv gesehen habe, und so weiter und so weiter …« Er macht eine unwillige Geste. »Erwin ist natürlich Gert beigesprungen, deine Vettern und Cousinen haben sich zwischen dem einen und dem anderen Lager die Waage gehalten, und es wäre beinahe zu einem echten Bruch innerhalb der Familie gekommen. Dein Onkel Johnny und ich hatten ganz schön damit zu tun, die Wogen wieder zu glätten. Es war furchtbar!« Mein Vater seufzt. »Und das ausgerechnet an einem solchen Tag…«
Ich schüttle den Kopf. »Gerade an solchen Tagen liegen die Nerven blank, das darf man wahrscheinlich niemandem übelnehmen.« Und nach einer Pause. »Ich hätte wirklich gern gewußt, wie Werner nun wirklich zu diesen Unruhen stand. Ich weiß einfach nicht, was ich selbst davon halten soll. Eigentlich hatte er nächstes Wochenende mit seinen Söhnen und mit mir darüber diskutieren wollen, und jetzt stehen wir hier an seinem Grab …«
Ich halte inne.
»Ich glaube, Werner hatte in diesen Fragen auch noch keine klare Linie gefunden, und da gibt es wohl auch gar keine eindeutigen Antworten. Stärken diese umstrittenen ›Notstandsgesetze‹, die dem Staat in Krisenzeiten mehr Macht geben, nun die Demokratie oder schwächen sie sie? Und wer entscheidet, wann und wogegen sich die Demokratie wehren darf und soll, ohne sich selbst ad absurdum zu führen? Ich glaube, das kann niemand abschließend beurteilen, und es ist sehr, sehr wichtig, daß ein demokratischer Staat darüber eine kontroverse Diskussion führt, diese Fragen
nicht auf die leichte Schulter nimmt. Aber auf einer Beerdigung hat so etwas doch nichts zu suchen, oder?«
Ich nicke. »Natürlich nicht, aber wahrscheinlich hätte Werner sich sogar ein bißchen darüber gefreut, daß man über die Fragen spricht, die auch ihn bewegt haben. Aber sicher haben vorhin alle überreagiert.«
Mein Vater nickt. »Andrej ist ein intellektueller Hitzkopf. Er erinnert mich sehr an Werner, als er ein junger Kommunist und Weltverbesserer war - zum Entsetzen der bürgerlichen Familie.«
Ich muß lächeln. »Eine bürgerliche Familie, deren Oberhaupt seinerzeit erheblich dazu beigetragen hat, daß Lenin in Rußland an die Macht kam.«
Mein Vater kann sich ein Lachen nicht verkneifen. »Also, wenn wir keine verrückte Familie sind.«
Nach einer Pause, in der er eine ohnehin
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