Der Mann mit dem Fagott
die Natur, die Menschen, für den Frieden bedeutet …«
Ihre Stimme zittert vor Erregung, Angst und Hoffnung.
Ich versuche hilflos, sie zu beruhigen. »Jenny, ich verstehe deine Gefühle so gut, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß einfach ein Wald abgeholzt wird, ohne daß das durchdacht wäre. Ich habe irgendwo gelesen, daß man in Deutschland für jeden abgeholzten Baum woanders einen neuen pflanzen muß, und wenn das stimmt, wäre das doch wenigstens ein kleiner Trost, oder?«
Jenny antwortet nicht.
»Wir werden uns erkundigen, das verspreche ich dir, und ich bin ja bald zu Hause, dann sprechen wir über alles in Ruhe, okay?«
»Ja, das ist gut.« Sie klingt schon ein wenig zuversichtlicher. »Meinst du, ich soll Opi am Lamisch anrufen und mit ihm darüber sprechen?«
»Das ist eine gute Idee.«
Ich kann Jennys ungeklärte Fragen in ihrem Schweigen, bevor sie auflegt, förmlich hören und weiß genau, daß meine Worte sie nicht wirklich beruhigen konnten - und mich selbst auch nicht.
Ich muß an meine Kindheit denken, an die vielen Stunden, die ich mit meinem Vater im Wald verbracht habe, an die Bäume, die er für jeden von uns drei Söhnen gepflanzt hat. Unbeschwerte
Stunden, in denen ich mit meinem Vater und Joe einen Weihnachtsbaum gesucht habe und er uns angehalten hat, leise zu sein, um den Weihnachtsmann nicht zu stören. Hinter jedem Baum, beim Knacken jeden Astes flüsterte er: »Ich glaube, ich hab gerade den Zipfel seines roten Mantels gesehen!« - oder - »Jetzt habe ich ihn atmen gehört!«
Die langen Spaziergänge, bei denen mein Vater mit uns über wichtige Fragen des Lebens gesprochen und uns die Natur nähergebracht hat. Ein Reichtum, der mir als Kind immer unerschöpflich erschien und der nun mehr und mehr der modernen Lebensweise zum Opfer zu fallen scheint. Werden meine Enkelkinder irgendwann noch die Erfahrung machen können, in den unendlichen Wäldern zu spielen, sich unter den Baumkronen geborgen aber auch demütig zu fühlen? Mehr und mehr beschleicht mich jene Angst und Beklemmung, die ich Jenny zu nehmen suchte.
Im Fernsehen die Bilder, von denen sie mir erzählt hat. Drastisch, gewaltvoll, ohne jede Schönfärbung.
Gerne würde ich jetzt mit meinem Onkel Werner darüber sprechen. Ich weiß, daß er den Schutz des Waldes um Frankfurt und den Erhalt als Naturschutz- und Naherholungsgebiet für die Großstadtbevölkerung immer als eines der wichtigsten politischen Ziele angesehen hat, aber das ist viele Jahre her. Wie würde er wohl heute darüber denken? Wie würde er als Politiker handeln? Und was würde er einem seiner Kinder sagen, wenn es ihn in solch einer echten Verzweiflung anrufen würde, wie es eben meine Tochter Jenny getan hat? Ich spüre auch die Ohnmacht des Erwachsenseins, das Vertrauen meiner Kinder, dem ich irgendwie gerecht werden möchte und die ich doch enttäuschen muß, weil es eben bittere Dinge gibt, die auch wir Erwachsenen - selbst in einer Demokratie - nicht verändern können. Eine entmutigende Erfahrung.
Beim Anblick eines Polizisten, der mit dem Knüppel auf einen Demonstranten einschlägt, bin ich versucht abzuschalten, weil ich die Bilder nicht mehr ertragen kann und bleibe dann doch dabei. Der nächste Bericht läßt mich, aufgewühlt vom vorangegangenen, die Hände vors Gesicht schlagen: Der ägyptische Staatspräsident Sadat, der einzige arabische Politiker, der sich glaubwürdig für den Frieden und für eine Lösung des unseligen und nicht enden wollenden Konflikts zwischen den Israelis und den Palästinensern einsetzt,
wurde während einer Militärparade von Attentätern erschossen. Ich sehe die Bilder, höre die Stimmen der Kommentatoren und merke, daß es mich überfordert, diese Dinge noch irgendwie zu begreifen und mich mit ihnen zu versöhnen. Diejenigen, die für den Frieden kämpfen, werden erschossen. Wie soll man so etwas seinen Kindern erklären, ohne ihnen den Glauben daran zu nehmen, daß die Welt auch gut sein kann? Und wie kann man selbst noch daran glauben?
Im kleinen scheint die Antwort darauf so einfach zu sein: in Freundschaften, in dem, was man empfindet, wenn man Musik hört, ein gutes Buch liest, ein Bild betrachtet, die Natur dort erlebt, wo sie noch intakt ist oder einfach Spaß hat, einen schönen Abend erlebt, ein gutes Gespräch führt. In solchen Momenten steht für mich außer Zweifel: Alle Konflikte der Welt sind lösbar. Aber sobald man diesen geschützten Rahmen verläßt, die Nachrichten sieht, die
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