Der Mann mit dem Fagott
Welt im Ganzen betrachtet, schwindet diese Zuversicht sofort auf ein Minimum, wird manchmal, wie heute, sogar im Keim erstickt. Soll man also keine Nachrichten mehr sehen, eine neue Biedermeierkultur leben, sich ganz ins Private zurückziehen? Das kann doch wohl nicht die Antwort sein.
Nachdenklich schleiche ich um das Klavier herum und spüre, daß ich in diesem Moment darin keinen Trost finden kann, daß mir in diesem Augenblick auch nichts einfallen wird. Ich muß raus, muß mich mit jemandem treffen, mit anderen sprechen und bin froh darüber, daß ich gleich mit meinem Textdichter Michael Kunze verabredet bin. Es wird mir guttun, auf andere Gedanken zu kommen und wieder die Freude von vorhin über das neue Lied zu empfinden.
Eine halbe Stunde später im »Hawelka« an meinem kleinen Stammtisch in der rechten hinteren Ecke. Michael Kunze wartet schon auf mich. Eine Arbeitsbesprechung, und ich spüre, daß es guttun wird, ein paar Stunden mit diesem klugen Mann und unseren neuen Liedern zu verbringen. Ich erzähle ihm von »Ich war noch niemals in New York«, das fertig ist und versuche, meine Freude von vorhin dabei wiederzufinden, was mir mehr schlecht als recht gelingt.
»Hast du eigentlich heute die Nachrichten gesehen?« unterbreche ich mich dann plötzlich. »In Frankfurt roden sie Wälder, in
Ägypten erschießen sie den einzigen Mann, auf dem die Hoffnungen auf Frieden ruhten, in Dutzenden Ländern herrscht Krieg, und ständig hören wir eine Horrormeldung über Luft- und Wasserverschmutzung nach der anderen. Das ist doch alles nicht mehr auszuhalten! Hat man denn gar nichts dazugelernt? Wie soll ich das alles meinen Kindern erklären? - Manchmal hab ich wirklich das Gefühl, es ist fünf Minuten vor zwölf.«
Michael nimmt einen Schluck von seinem Rotwein, dann sieht er mich wie elektrisiert an:
»›Fünf Minuten vor zwölf‹. Du hast gerade den Titel genannt. Das ist es! Das ist das Gefühl unserer Zeit, und das ist die Zeile, auf der wir ein Lied aufbauen müssen. Wir fangen jetzt gleich damit an. Es ist das einzige, was wir tun können, und es ist nicht das schlechteste. Es muß ein hoffnungsvolles Lied werden, trotz allem, ein Lied, das das Negative beim Namen nennt, aber auch das Positive zeigt. Die Bilder, die uns aufwühlen, aber auch die, in denen eine Antwort liegen kann, das muß der Weg sein!«
Michaels Begeisterung und Überzeugung stecken mich an, und ich fühle, wie meine Freude zurückkehrt.
Wir arbeiten die Nacht durch, diskutieren den ersten Textentwurf noch im »Hawelka«, gehen danach zu meinem Blüthner-Flügel, ich finde die Melodie, wir feilen an ihr, am Text, ändern hier, ergänzen dort, und als der Tag erwacht, ist das Lied fertig: »Fünf Minuten vor zwölf«.
Ich begleite Michael Kunze zum Taxi und kehre selbst nicht gleich in die Wohnung zurück. Ich bin viel zu aufgekratzt, um jetzt zu schlafen. Ein Gulasch in einem der Frühlokale, ein Rosenverkäufer, der seine Schicht beendet. Ich kaufe ihm eine seiner letzten Rosen ab, gehe die paar Schritte in den Stadtpark, klettere am Sockel des Johann-Strauß-Denkmals hoch, zu dessen Füßen ein dicker Teppich aus bunten, rauschenden Blättern liegt, lege die Rose auf seine Geige. Ein kopfschüttelnder Passant geht staunend seines Weges.
Wieder zurück auf der Ringstraße ziehen erste Straßenbahnen an mir vorbei, bei einem Bäckerladen an der Ecke werden die Rolläden hochgezogen. Gleich wird Jenny aufstehen, dann rufe ich sie an und spiele ihr zumindest ein paar Takte des Liedes vor, bevor sie in die Schule geht. Vielleicht nur eine kleine Geste, aber vielleicht spürt sie wie ich darin ein wenig Trost und Zuversicht:
Und ich sah einen Wald, wo man jetzt einen Flugplatz baut.
Ich sah Regen wie Gift, wo er hinfiel, da starb das Laub.
Und ich sah einen Mann, der für Hoffnung und Frieden warb,
Und ich sah, wie er dann dafür durch eine Kugel starb.
Doch ich sah auch die Angst, die so viele zur Einsicht bringt,
Jemand sagte zu mir, daß die Zukunft g’rad jetzt beginnt,
Und ich sah auf die Uhr:
FÜNF MINUTEN VOR ZWÖLF…
»Valse Musette« - Kärnten, 6. April 1984
Der Klang meines Klaviers hallt von den Wänden des leeren Raumes wider. Nur mein Vater und ich, und mein Vater kann mich nicht mehr hören. Im Schein von Dutzenden Kerzen nehme ich Abschied. Es ist kalt in dieser Aufbahrungshalle, viel zu kalt, um hier Trost zu finden, aber der Trost liegt ohnehin anderswo, nicht hier und auch nicht heute. Es sind
Weitere Kostenlose Bücher