Der Mann mit dem Fagott
ich diese kleine Melodie nicht mehr gespielt, und es ist ein Wunder, daß ich mich überhaupt noch an sie erinnern kann. Es ist mein Stück für ihn. Es gehört nur ihm und mir und diesem Raum. Zumindest für eine lange Zeit.
Draußen Stimmen. Leise Ungeduld, die durch die dicke Holztür dringt. Es ist bald soweit, die ersten Trauergäste warten. Die letzten Töne. Eine letzte Nähe, die vergeht und doch für immer bleibt.
Tödlicher Regen? - Wien, 9. Mai 1986
Nur langsam löst sich die Menschenmenge auf. Die Beleuchtung des Rathausplatzes ist fast unmerklich vom unwirklichen Bühnenzum normalen Abendlicht der Stadt übergegangen. Viele Besucher stehen immer noch vor der Bühne, wollen sich offenbar nur ungern wieder ihrem normalen Leben und den Sorgen dieser Tage zuwenden.
30 000 Menschen sind gekommen, um das Konzert zu hören, das ich zur Eröffnung der Wiener Festwochen gemeinsam mit den Wiener Symphonikern, großem Chor und dem Orchester Pepe Lienhard gegeben habe, das seit einigen Jahren mein ständiges Begleitorchester ist.
Noch am Nachmittag war nicht sicher, ob das Konzert überhaupt stattfinden würde. Mehr denn je zuvor und mehr als bei jedem anderen Open-Air-Konzert fürchtete man Regen. Regen in Wien, an diesem Frühlingstag des Jahres 1986, das wäre nicht nur unangenehm für die Konzertbesucher gewesen, nein, viel mehr als das. Regen in diesen Tagen, das könnte atomarer Regen sein.
Vor knapp zwei Wochen ist in Tschernobyl ein Atomreaktor explodiert und scheint zumindest das nördliche Mitteleuropa in noch unbekanntem Maße mit strahlendem Fallout verseucht zu haben. Genaueres weiß man immer noch nicht: Rußland weigert sich, eingehende Informationen preiszugeben, und Erfahrungswerte gibt es natürlich nicht. Es wird viel spekuliert in diesen Tagen, es werden Sachverständige gefragt, Wissenschaftler, Eingeweihte, doch niemand wagt eine sichere Prognose. Zwischen einer großflächigen atomaren Verseuchung zumindest Europas und einer möglichen Begrenztheit der Folgeschäden um das engere Katastrophengebiet hält man alles für möglich. Kinder sollen die Spielplätze meiden, man soll möglichst im Haus bleiben, die Fenster geschlossen halten, Obst, Gemüse, vor allem Pilze aus unseren Gefilden sollten nicht gegessen werden, meint man, sonst weiß man keinen Rat. Ob die Bevölkerung Wiens künftig ein erhöhtes Krebsrisiko tragen, ob mißgebildete Kinder geboren werden, ob alles noch viel schlimmer kommt - keiner kann es sagen, und was Regen für Folgen hat, das weiß man erst recht nicht. Der Reaktor hat wohl bis gestern immer noch gebrannt.
Man hat lange überlegt, ob man in Zeiten wie diesen überhaupt ein Konzert veranstalten sollte, ob es zu verantworten sei, die Menschen mit so einem Ereignis ins Freie zu locken, wo sie den Gefahren atomarer Strahlung vermehrt ausgesetzt sein könnten. Doch sind sie drinnen geschützter? Gibt es überhaupt irgendeinen Schutz? Gibt es eine Gefahr? Keiner weiß es.
Schließlich hat die Stadtverwaltung beschlossen, daß wir spielen sollen. Das Eröffnungskonzert der Wiener Festwochen, das außerdem im Fernsehen und Radio übertragen wird, ist einfach ein zu
großes und traditionsreiches Ereignis für ganz Österreich, um es abzusagen. Der Regen ist bis auf ein paar Tropfen ausgeblieben.
Der Abend war von einer Intensität getragen wie kaum ein Konzertabend zuvor. Es war, als hätten die Menschen ganz bewußt beschlossen, in diesen Stunden, alles Bedrückende zu vergessen und zu leben, egal, was morgen sein wird. Selten habe ich so eine gespannte Aufmerksamkeit gespürt, so eine Sensibilität für jede kleine Geste, jeden Song, jede Textzeile. Besonders für Lieder wie »Fünf Minuten vor zwölf«, entstanden vor ein paar Jahren, gar nicht weit von dieser Bühne und dem Rathausplatz entfernt, oder »Ich war noch niemals in New York«, das Lied von ungelebten Sehnsüchten nach purer Lebensfreude, oder »Jenja«, ein Song über einen kleinen Jungen, der mit seinen Spielzeugpanzern »Abrüstung« spielt. Und vor allem natürlich »Der Tag davor«, ein Lied über die atomare Bedrohung der Welt, das ich vor zwei Jahren geschrieben habe. Songs, die an diesem Tag den Nerv der Zeit zu treffen schienen. Man wollte unterhalten werden, aber auch die Fragen und Gefühle der Stunde hören, auch wenn Lieder natürlich keine Antworten geben können.
Immer noch dringen »Zugabe«-Rufe vom Rathausplatz her zu meinem Garderobenwohnwagen. Zehn- bis fünfzehntausend Menschen
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