Der Mann mit dem Fagott
Stunden und Tage, die es zu bewältigen gilt. Irgendwie.
Am Montag ist mein Vater im Krankenhaus in Klagenfurt gestorben. Wochenlang war er dort, schwer herzkrank, Wasser in seiner Lunge, angestrengt von jedem Satz und doch klar bei Bewußtsein, glücklich, wenn er einen von uns sah. Meine Brüder und ich haben uns am Krankenbett abgewechselt, meine Mutter war fast ständig dort. Gerade in diesen letzten Tagen war jeder Augenblick viel zu wertvoll, um verschwendet zu werden. Letzte Gespräche, Hoffnung, noch mal nach Hause zu kommen, den Lamisch noch mal zu sehen, Erinnerungen an früher, an die wilden Zwanziger in Berlin, an das Wiedersehen mit dieser Stadt vor ein paar Jahren, an »Wort«, meine Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern »vielleicht eine der wichtigsten und glücklichsten Stunden in meinen letzten Jahrzehnten«. Fragen, ob man alles richtig gemacht hat im Leben, ob man die Weichen richtig gestellt hat, ob man ein guter Ehemann war, ein guter Vater, ein guter Mensch. Was würde
man besser machen, wenn einem doch noch einmal Zeit geschenkt werden würde? Ein paar Wochen, Monate, vielleicht ein Jahr, noch einen Frühling erleben, einen Sommer. Glanz in seinen Augen, wenn er davon sprach. Fragen, die nach vorn gerichtet waren: »Was sind deine nächsten Pläne? Komponierst du zur Zeit wieder? Weißt du schon, wie du die Eröffnung deines nächsten Konzerts gestalten wirst?«
Hunger nach Normalität, danach, Anteil nehmen zu dürfen und eine seltsame Beklemmung, wenn ich davon erzählen sollte, von meinem Morgen, Übermorgen, nächsten Jahr, das um soviel gewisser schien als das seine. Und seine Lebensfreude, die zurückkehrte, wenn er einen wertvollen Schluck einfachen Wassers nehmen durfte und es auskostete, als wäre es ein Schluck von einem edlen, vollkommenen Wein.
Als es zu Ende ging, war Manfred bei ihm. Meine Mutter war für ein paar Stunden nach Hause gegangen. Auch sie ist nicht mehr allzu gut auf den Beinen. Wahrscheinlich war es besser so.
Heute wird die Trauerfeier stattfinden. Ein paar Minuten mit ihm allein, dann werden die anderen Gäste kommen. Abschiednehmen. Es ist nichts Wichtiges ungesagt zwischen uns, das tröstet. Ein wenig zumindest. Der Schmerz, ihn nicht mehr fragen, Erlebtes nicht mehr mit ihm teilen zu können, wird immer wieder kommen und mein Leben lang bleiben, das weiß ich.
Mein Klavier erreicht ihn, irgendwo, in einer anderen Welt, auch wenn ich nicht an ein Jenseits in der Form glaube, wie es uns die Religionen erklären. Mein Klavier verbindet uns, hier und jetzt. Es ist die einzige Sprache, die es in diesem Augenblick noch zwischen uns geben kann. Ich spiele das G-Moll-Thema aus »Wort«, er hat es so gerne gehört, und es ist mir fast ein bißchen peinlich, hier zu spielen. Ich möchte mich nicht produzieren. Es war mir wichtig, allein zu sein mit ihm, für ihn zu spielen, nicht für die anderen Trauergäste. Er würde es verstehen. Der Klang meines Klaviers erscheint mir fast zu laut. So leise, wie ich gern spielen würde, kann ich die Töne gar nicht anschlagen. Wie gut muß man eigentlich Klavier spielen können, um diese Ruhe nicht zu stören? Es müßte noch viel intimer sein. »Wort«. Berlin. Erinnerungen.
Schon verblaßt die neuere Zeit, schon ist mein Vater in meinen Erinnerungen wieder ein junger Mann in seinen besten Jahren, so,
wie ich ihn als Kind und Jugendlicher gekannt habe. Ein Fels in der Brandung, immer ruhig, zuversichtlich, ein Halt mein Leben lang.
Der Sarg erscheint mir viel zu klein, zu winzig für meinen Vater. Er war doch viel größer.
Eine Zeit versinkt. Nur noch einer der fünf Brüder ist am Leben, mein Onkel Johnny. Für ihn wird es schwierig werden, er und mein Vater standen sich immer besonders nahe. Der letzte Bruder, den er nun verloren hat. Der letzte seiner Generation. Daß meine Brüder, meine Cousins und ich nun nachrücken, die entstandene Leere auffüllen sollen, kann ich mir immer noch nicht vorstellen. Der Gedanke ist für mich ganz weit weg, hat nichts mit meinen Gefühlen und meiner Trauer zu tun. Vielleicht denke ich ihn, um nicht weinen zu müssen. Darüber haben mein Vater und ich in den letzten Jahren nie mehr gesprochen.
Der »Valse Musette« meiner Kindheit, an meinem zwölften Geburtstag habe ich ihn auf dem Klavier zusammengesucht und das dann ganz stolz »komponieren« genannt. Es ist das Stück, mit dem für mich alles anfing und das er wahrscheinlich immer am meisten von mir geliebt hat. Jahrelang habe
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