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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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entflohen, in der es keine Zukunft für uns gab, bis sie uns an einem Augustabend vor mehr als zwanzig Jahren schließlich eingeholt hat. Die Stadt hält mir einen wichtigen Teil meiner eigenen Geschichte gegenwärtig. Ich werde sie nie ganz frei, nie mit den Augen der staunenden Touristen sehen können, die sie vor allem im Frühling und Sommer bevölkern.
    Oktober in Wien, das ist genau die Atmosphäre, die ich jetzt brauche, um neue Lieder zu schreiben. Und die lauschigen Gastgärten der Heurigenlokale, die Straßencafés mit ihren »Schanigärten« sind jetzt, um diese Jahreszeit, nicht mehr so unwiderstehlich einladend, um mich zu verführen und mich von meiner Arbeit abzulenken. So habe ich gute Chance, am Klavier sitzenzubleiben und ihm nicht zugunsten des pulsierenden Lebens auf den Straßen zu entfliehen. Die einsame Arbeit am Klavier erfordert eine Disziplin, die mir nicht in die Wiege gelegt ist und die ich mir jeden Tag aufs neue erkämpfen muß - auch noch nach all den Jahren.
    Die letzte Schallplatte, die von mir erschienen ist, war die amerikanische
Produktion »Leave A Little Love«. Wie erwartet, ist sie in Deutschland nicht so ein großer Verkaufserfolg geworden wie meine deutschsprachigen Platten, dafür ist sie aber inzwischen in zwanzig Ländern erschienen, sogar in Rußland, was mir natürlich viel bedeutet. Das Album wurde von den führenden Musikjournalisten Deutschlands auf Platz 1 der »Bestenliste« und somit zum »Album des Jahres« gewählt, und mit dem Titelsong hat man mich zum World Popular Song Festival nach Tokio eingeladen, dem größten Fernsehmusikwettbewerb der Welt, der Ende Oktober mit internationaler Beteiligung stattfinden wird. Er dauert bis zum großen Finale eine ganze Woche lang und wird allabendlich live übertragen. Aber Tokio ist im Augenblick für mich noch weit weg. Im Moment gilt meine ganze Aufmerksamkeit der Arbeit am neuen Album.
    Die Songs sind so gut wie fertig, nur ein paar Einleitungen und Zwischenspiele sind noch zu komponieren. Es sind sehr unterschiedliche Lieder geworden: vom stillen Liebeslied »Engel am Morgen« über das leicht anzügliche »Bleib doch bis zum Frühstück« bis hin zu engagierteren Themen wie »Ich bin dafür«, das eine kleine Antwort auf die mir sehr fremde »Ich bin dagegen«-Mentalität sein soll, die sich in Deutschland mehr und mehr breitmacht. Wahrscheinlich wird das Album »Silberstreifen« heißen.
    Gerade in diesen Tagen habe ich auch endlich den Song fertiggestellt, der mir noch gefehlt hat, das ganz besondere Lied, das einem Album seinen Charakter gibt. Der Text von Michael Kunze erzählt in sehr klaren Bildern die Geschichte eines Mannes, der für einen kurzen Augenblick beim Zigarettenholen überlegt, ob er dem beklemmenden, grauen Alltag entfliehen soll: einfach weg, aufbrechen, wegfliegen, irgendwohin, vielleicht nach New York oder nach San Francisco, ein ganz anderer Mensch zu sein, ein ganz anderes Leben zu führen. Es könnte ein Lied werden, das die Sehnsüchte einer Generation spiegelt, und der Text ist von der Alltagssprache geprägt: Es ist vom Treppenhaus die Rede, von Bohnerwachs, Spießigkeit, einer Zigarettenschachtel und dergleichen mehr. Lauter Worte, die noch nie in einem deutschsprachigen Lied zu hören waren. Voll Euphorie singe ich für mich den Refrain noch einmal durch: »Ich war noch niemals in New York …«, und ich beschließe, heute abend Johann Strauß wieder einmal eine Rose darzubringen, als das Telefon mich unterbricht.

    Etwas unwillig nehme ich ab, noch ganz auf mein neues Lied konzentriert, doch sofort bin ich ganz präsent. Es ist die Stimme meiner vierzehnjährigen Tochter Jenny, die ungewöhnlich aufgewühlt klingt: »Papa, ich muß einfach mit dir sprechen. Hast du gerade die Nachrichten gesehen?«
    Sie kämpft offenbar mit den Tränen, spricht aufgeregt weiter, ohne meine Antwort abzuwarten.
    »Die haben gerade gezeigt, wie dieser herrliche Wald um den Flughafen in Frankfurt wegen der ›Startbahn West‹ von riesigen Baggern gerodet wird! Die Polizisten gehen mit Knüppeln auf die Menschen los, die dort seit Wochen leben und die Natur beschützen wollen und räumen das Gelände! Und du hast doch immer erzählt, wie wichtig es Onkel Werner damals als Oberbürgermeister war, den Wald um Frankfurt herum zu erhalten. Ein Wald, das ist doch Leben ! Und ich weiß doch auch, wie mein Opa seinen Wald in Kärnten liebt und hegt und pflegt und wie er uns immer erklärt hat, was der Wald für

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