Der Mann mit dem Fagott
Moment, läßt sich nicht festhalten, nicht wieder und wieder erleben, nicht einmal wenn man eine Aufnahme davon herstellt. Lieder sind Gefühle des Augenblicks, flüchtig, wechselhaft, unstetig - und lassen am Ende eine Einsamkeit zurück, die manchmal sogar schmerzt. Eine Sehnsucht, vielleicht eine Hoffnung oder ein wenig Mut. Was von diesem Abend bleiben wird, weiß ich nicht, aber es war ein wichtiger Abend, dessen bin ich mir gewiß. Morgen werde ich zum Johann-Strauß-Denkmal gehen.
Ich spüre die Müdigkeit, ziehe die Vorhänge über das offene Fenster, bin ganz mit mir allein und doch nicht einsam. Es ist ein gutes Gefühl.
Ein Stück aus der Mauer - Hannover, 11. November 1989
Raschelnde Blätter unter meinen Füßen. Der Herbst hat schon ganze Arbeit geleistet. Leichter Nieselregen, der den Weg durch den Park über das gefallene Laub der letzten Tage zu einer Rutschpartie macht. Ich habe nicht die richtigen Schuhe für so einen Spaziergang
dabei, aber umkehren will ich nicht. Ich spüre, wie die frische Luft, die Stille, das Geräusch unter meinen Füßen mir guttun und mich beruhigen in diesen Tagen der Hektik, überbordenden Emotion und Nervosität. Eigentlich müßte ich jetzt im Kuppelsaal am anderen Ende dieses Parks sein, um die letzten Konzertvorbereitungen für heute abend zu treffen, aber das Orchester ist aus Berlin noch nicht nach Hannover durchgekommen, und auch die Lastwagen mit dem Equipment hatten Verspätung, die Bühne ist noch nicht fertig aufgebaut. Schier unendliche Staus an allen innerdeutschen Grenzübergängen. Die Ereignisse dieser Tage fordern ihren Tribut.
In meiner Jackentasche ein Stück aus der Mauer, ein faustgroßer Brocken, den ich selbst herausgebrochen habe. Auf der einen Seite bunt vom Rest eines Graffitis, auf der anderen Seite grau, Beton, der die Freiheit begrenzt, die Menschen 28 Jahre lang umschlossen und gefangengehalten hat und der vorgestern endlich brach, von der friedlichen Kraft der Menschen besiegt wurde, nachgab, sich überrollen ließ.
Ja, die Berliner Mauer ist vor zwei Tagen gefallen! Unaufhaltsam, unvorhergesehen und immer noch unbegreiflich. Und ich war dabei.
In einem unergründlichen Zufall hat die Tournee mich mitten ins Zentrum des wahrscheinlich wichtigsten historischen Ereignisses seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geführt - mit einem Konzert in Berlin, gestern, am ersten Tag der neuen Freiheit, das erste Konzert überhaupt in der nicht mehr geteilten Stadt.
Nur wenige Stunden ist es her, seit ich letzte Nacht gemeinsam mit meinem Orchesterchef Pepe Lienhard und einigen Freunden in einem noch nie erlebten Taumel am Brandenburger Tor stand. Wir sahen Menschen, die sich durch schmale Maueröffnungen zwängten, auf der Mauer tanzten, dort, wo sie noch stand, sich auf beiden Seiten des Todesstreifens in die Arme fielen, sahen Tränen und hörten Jubelschreie, waren Teil eines Meeres der ungezähmten Emotion, und es erscheint mir immer noch irreal, wie ein merkwürdig intensiver, fremdartiger Traum.
Ich hatte noch keine Zeit zu begreifen. Mein Leben scheint gerade in diesen Tagen beinahe ausschließlich aus Gegenwart zu bestehen, Augenblicke, die erlebt werden und vergehen, ohne verarbeitet, gedeutet und mit Seele und Verstand erfaßt zu werden.
Vor allem in diesen Tagen ist jedes Zeitgefühl in mir verlorengegangen. Seit fast zwei Monaten bin ich unter dem Motto »Ohne Maske« auf Tournee. Fast täglich ein Konzert, Reisen von einer Stadt zur nächsten, insgesamt ein halbes Jahr, mehr als 120 Auftritte lang. Das meiste liegt noch vor uns. Emotionen liegen blank, Eindrücke verwischen. Wo war ich gestern? Vorgestern? Letzte Woche? Ich muß in meinem Kalender nachsehen, um mich zu erinnern, und der Tunnel der routinierten Abläufe - reisen, auspacken, Soundcheck, Konzert, Abendessen, schlafen, Koffer packen, wieder reisen - und der alles andere als routinierten Gefühle, Abend für Abend auf der Bühne gelebt, ist noch lang und läßt eigentlich keinen Raum für Außergewöhnliches. Schon das Normale wirft uns immer wieder in einen schier unbezwingbaren Sog von Gefühlen. Wie soll man da auch noch ohnehin unbegreifliche Ereignisse wie den Mauerfall, die völlige Neuordnung der Geschichte, gedanklich erfassen, verstehen, sich setzen lassen?
Augenblicke ganz für mich allein sind selten. Meistens kann ich sie auch schwer ertragen, umgebe mich mit Menschen, Ablenkungen, um nicht plötzlich auf mich selbst zurückzufallen, den aufgewühlten
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