Der Mann mit dem Fagott
katapultierte: die »Reichskristallnacht«, die Nacht der Pogrome.
Und nun, genau 51 Jahre später, hat sich ausgerechnet in jener Nacht des 9. November die Menschlichkeit und Freiheit durchgesetzt, hat die Mauer zwischen Ost und West eingerissen und - so hoffen wir alle - eine neue Ära der Humanität und Freundschaft begründet. Was für eine Zeit!
Was hätte mein Großvater darum gegeben, das zu erleben? Und was mein Vater und seine Brüder, von denen nur noch einer am Leben ist, Onkel Johnny.
Leider hat auch meine Mutter diese historischen Stunden nicht mehr erlebt. Ihr Lebenstraum hat sich neun Monate zu spät erfüllt. Sie ist im Februar dieses Jahres im Alter von 80 Jahren in der Innsbrucker Universitätsklinik gestorben. Ihr Sterben, ihre Zeit im Krankenhaus dauerte wenige Wochen, doch im Grunde hat es bereits mit dem Tod meines Vaters begonnen, der auch ihr schleichend den Lebensmut und die Energie nahm.
Weihnachten und den Jahreswechsel habe ich mit ihr im Tiroler Ort Telfs in einem Luxushotel mitten in den Bergen verbracht. In dieser Zeit schimmerte wieder ein wenig von ihrer früheren Begeisterungsfähigkeit durch, und ich konnte manchmal in ihren lachenden Augen die junge Frau von früher erahnen, das Mädchen, das ich nur von Bildern kenne. Doch das Gehen fiel ihr schwer.
»Tanzen werde ich wohl nicht mehr, aber die Champagnerkorken lassen wir knallen, einverstanden, mein Junge?« hatte sie noch in der Silvesternacht gesagt, und es hatte fröhlich geklungen. Wir haben auf das neue Jahr angestoßen, haben gefeiert, sind irgendwann schlafen gegangen.
Am nächsten Morgen bin ich vom Lärm in ihrer Suite aufgewacht, die neben meiner lag. Sanitäter waren dabei, meine Mutter zu versorgen. Man erklärte mir, offenbar habe eine Thrombose aus ihrem Bein sich gelöst und eine Lungenembolie verursacht. Man brachte sie ins Krankenhaus. Sie war meistens ansprechbar und klar bei Sinnen. Dann folgten zwei Schlaganfälle, sie fiel ins Koma und starb zwei Wochen später.
Wieder waren meine Brüder Joe und Manfred und ich abwechselnd bei ihr. Wieder war es Manfred, der, bevor sie ins Koma fiel, zuletzt mit ihr gesprochen hat. Sie hatte phantasiert, war in Berlin, mit meinem Vater, sie waren wieder jung, Potsdamer Platz, Haus Vaterland, Barnabas von Gečy … Sie tanzten …
Was hätte sie dafür gegeben, diesen 9. November, diesen Sieg der Menschlichkeit noch zu erleben? Vielleicht ein Schritt zu einem wieder geeinten Land, zu einem endlich vereinten Europa, dem Lebenstraum meines Großvaters und meiner Eltern. Ein Europa der Freiheit, der Freundschaft, der Offenheit, des Vertrauens, der Kultur, der Demokratie, ein Europa, zu dem selbstverständlich auch Rußland gehört, zumindest der westliche Teil davon, ein Anknüpfen an frühere Gemeinsamkeiten. Ein Europa, das Dresden, Prag, Warschau, Budapest, St. Petersburg und Moskau genauso einschließt wie Paris, London, Wien, Berlin.
Ein Schauer der Begeisterung läuft mir bei dem Gedanken über den Rücken. Natürlich sind das alles noch immer nur Träume, aber wer nie zu hoch greift, erreicht nie die Sterne, und vielleicht sind wir in diesen Tagen diesen Träumen ja tatsächlich einen Riesenschritt nähergekommen.
Der Regen wird allmählich stärker. Ich spüre eine leichte Erkältung in mir aufsteigen. Wahrscheinlich habe ich sie mir letzte Nacht an der Mauer geholt. Im Taumel spürte man die Novemberkälte nicht mehr. Wer hätte 1961, als ich meinen Onkel Werner just in jenen Tagen traf, in denen diese Mauer errichtet wurde, gedacht, daß ich 28 Jahre später ein Stück daraus in meiner Hand halten würde?
Langsam muß ich zurückgehen. Schließlich habe ich heute abend ein Konzert zu spielen, auch wenn ich es mir immer noch nicht wirklich vorstellen kann. Ein wenig kommt es mir sogar lächerlich vor, heute abend aufzutreten - als hätte die Geschichte sich nicht gerade in einer friedlichen Revolution völlig auf den Kopf gestellt. Was bedeutet in diesen Tagen schon »Musik machen«? Was können Lieder in Zeiten wie diesen bedeuten? Das Konzert ist ausverkauft, aber werden die Menschen wirklich ein Konzert hören wollen, anstatt sich persönlich an den innerdeutschen Grenzen von der neuen Weltordnung zu vergewissern oder im Fernsehen gebannt die Berichte zu verfolgen, die sich beinahe stündlich mit Neuigkeiten überschlagen? Sollte man nicht aufgrund der aktuellen Ereignisse absagen? Zumindest ein paar Tage Pause machen, die ausgefallenen Konzerte am
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