Der Mann mit dem Fagott
Gedanken nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Die gefürchtete Einsamkeit der Nächte immer wieder in flüchtigen Begegnungen erstickt. Kurze Lieben, die mit dem Anbruch des neuen Tages abgelebt waren, ein Abschied, ein Anruf, vielleicht nach Monaten ein Wiedersehen. Immer bemüht, zumindest eine gewisse Würde zu wahren, wenn es auch sicher nicht immer gelang. Meistens wenigstens mit Dankbarkeit, und doch nie von Dauer.
Bin ich überhaupt fähig zu lieben, mit jener Ernsthaftigkeit, die ich manchmal nur aus Romanen und Filmen und meinen eigenen Liedern zu kennen glaube? Müßte ich es sein? Es sind immer noch die gleichen Fragen wie vor dreißig Jahren, die ich mir stelle, und ich muß immer noch der gleichen Antwort entgegensehen: »Wahrscheinlich nicht …«
Wird man mit zunehmendem Alter reifer? - Ich fürchte, nein. Und macht diese Unfähigkeit zu lieben mich stark oder schwach? Egoistisch oder unabhängig? Frei oder gefangen in mir selbst, ohne mich mit der Absolutheit der anderen auf einen Menschen einlassen zu können? Geht mir dadurch etwas Wichtiges verloren, etwas, das ich nicht einmal erahnen kann? Und warum bin ich nicht
bereit, den Preis dafür zu bezahlen, den Verlust der Freiheit hinzunehmen für ein Mehr an Nähe? Oder lebe ich meine Gefühle vielleicht viel zu sehr in meinen Liedern aus, so, daß für das »wirkliche Leben« vielleicht einfach nicht mehr genug übrigbleibt? Soll ich darüber traurig sein oder froh? Ich weiß es heute genausowenig wie vor dreißig Jahren.
Vor wenigen Monaten sind Panja und ich geschieden worden. Wir haben es lange geplant. Getrennt waren wir ja ohnehin schon seit Jahrzehnten, seit zwei Jahren gehen unsere Kinder Jenny und Johnny ihre eigenen Wege. Panja und ich haben den Drahtseilakt, eine verstorbene Ehe in Vertrauen und Freundschaft zu verwandeln, geschafft, und auch das »Getrennt-Zusammenleben«, das Selbstverständnis, eine Familie zu sein, haben wir gut bewältigt. Nur hat es sich jetzt überlebt, und es ist Zeit für eine neue Freiheit. Für beide von uns.
Der Park, an dessen Rand das Hotel und der Konzertsaal liegen, ist beinahe menschenleer. Nur ein altes Paar sitzt in dicken Mänteln auf einer Parkbank und füttert Tauben. Der Mann nimmt lächelnd für einen Augenblick die Hand der Frau. Gelebtes, gemeinsames Leben, Zueinanderstehen, Liebe, die das Leben besiegt und besteht. Es berührt mich. Es trifft mich tief in der Seele und gibt mir ein Gefühl großer Unzulänglichkeit und Einsamkeit. Für einen winzigen Moment beneide ich die beiden. Ich singe darüber, und diese beiden leben es.
Ich schlage den Kragen meiner Jacke hoch, spüre das Mauerstück in meiner Tasche wie einen körperlichen Beweis dafür, daß das, was gerade in Berlin geschehen ist, Wirklichkeit ist. Manchmal muß ich mich dessen für einen Augenblick vergewissern, muß das Stück Beton spüren, sehen, erfassen, um mir sicher zu sein. Es schien plötzlich so einfach zu sein: Mauerplatten, die der Kraft und Entschlossenheit der Menge nicht lange standhielten. Was für ein unüberwindbares Gewicht hatten sie noch vor Tagen gehabt? Wie unüberwindlich, für die Ewigkeit gebaut, schien die Mauer da?
Noch weiß keiner, ob diese neue Freiheit nicht nur ein schöner Spuk ist, der vorübergeht. Ist Deutschland wieder ein geeinter und freier Rechtsstaat, wie es in der Hymne heißt? Wird die DDR-Regierung abtreten oder wird sie doch noch irgendeinen Weg finden, die Macht mit Hilfe der Schutzmacht UdSSR wieder an sich zu reißen
und zurückzuschlagen und diese Tage damit zum historischen Intermezzo werden zu lassen, als dessen einzige Folge leicht gelockerte Reisebedingungen bleiben?
Warum es wieder ausgerechnet der 9. November war, das Datum, das in der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts so ein schicksalsträchtiges ist, das wird man ohnehin niemals beantworten können. Am 9. November 1918 hat man den deutschen Kaiser Wilhelm II. zur Abdankung gezwungen und innerhalb von zwei Stunden die Deutsche Republik unter Philipp Scheidemann und die Freie Sozialistische Republik unter Karl Liebknecht ausgerufen, der Beginn einer Ära voll von politischem Chaos. Genau fünf Jahre später, am 9. November 1923, hatte Hitler mit einem Putschversuch in München zum ersten Mal vergeblich nach der Macht gegriffen. Und weitere fünfzehn Jahre später, wiederum am 9. November 1938, folgte ein Akt der Barbarei und Menschenverachtung, der Deutschland in die dunkelste Zeit seit Menschengedenken
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