Der Mann mit dem Fagott
sind jetzt, eine halbe Stunde nach Ende des Konzertes, sicher noch hier.
Mein älterer Bruder Joe, der seit einigen Jahren in der Führungsetage der BP Österreich arbeitet und in Wien lebt, ist gekommen, und auch Manfred ist aus München angereist, wo er zur Zeit hauptsächlich wohnt und sein Atelier hat. Eigentlich wollte er unsere Mutter aus Kärnten abholen und mitbringen, doch so eine Reise in eine Großstadt ist inzwischen zu anstrengend für sie. Seit dem Tod meines Vaters hat sie viel von ihrer Lebensenergie verloren. Sie lebt ganz allein auf dem Lamisch. Sie will es so, obwohl jeder von uns drei Brüdern angeregt hat, ihr eine Wohnung in der Nähe zu besorgen. Sie möchte nicht mehr umziehen. Ich kann es verstehen.
Meine beiden so unterschiedlichen Brüder sitzen in der ihnen sichtlich fremden Welt meiner Künstlergarderobe, einem Wohnwagen am Wiener Rathaus. Die Gelegenheiten, bei denen wir drei zusammenkommen, sind selten geworden. »Drei-Brüder-Treffen« - in Anlehnung an die früheren »Fünf-Brüder-Treffen« zwischen
meinem Vater und seinen vier Brüdern - sind rar. Es hätte eigentlich ein heiteres Treffen werden sollen, getragen von einem großen, unbeschwerten Konzertabend, doch irgendwie liegt in all der Euphorie über den Erfolg auch Nachdenklichkeit. Noch können wir den Wohnwagen nicht verlassen, er wird noch zu sehr belagert, die Polizei bittet um Geduld. Man will uns etwas später, wenn es ruhiger geworden ist, zum Empfang ins Rathaus lotsen.
Jemand fragt, ob man uns ein Radio bringen solle, um die neuesten Informationen vom Reaktorunfall zu bekommen. Wir lehnen dankend ab.
»Ich kann das im Augenblick gar nicht mehr hören, das macht einen nur verrückt und ändert ja doch nichts«, echauffiert sich Manfred. »Wirkliche Informationen geben die Russen ja sowieso nicht preis…- Daß man bei Unglücken wie diesem in West und Ost nicht zusammenarbeitet, das macht mich noch wahnsinnig! Der ganze Dreck und die Strahlung lassen sich ja auch nicht von Mauern und Grenzen und einem Eisernen Vorhang aufhalten. Da hat Österreich die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf verhindert, obwohl es fertiggestellt war und Milliarden gekostet hat, aber rundherum, vor allem im Ostblock, stehen viel schlimmere Katastrophenreaktoren herum, die jeden Moment hochgehen können.« Manfred zündet sich eine Zigarette an, seine Hände zittern leicht. »Die Halbwertszeit von diesem ganzen Müll beträgt zum Teil 10 000 und noch mehr Jahre, heißt es. Das wären ja …« er hält inne, rechnet, »… 400 bis 500 Generationen. Welcher Mensch, welche Regierung auf dieser Welt kann sich anmaßen, so eine Verantwortung auf sich zu nehmen?«
»So habe ich darüber noch nicht nachgedacht.« Ich setze mich zu den beiden. »Wenn man das so sieht, dürfte es eigentlich überhaupt keine Kernkraftwerke mehr auf der Welt geben, denn jeder, der das entscheidet, übernimmt sich zwangsläufig - oder er handelt gewissenlos. Wir reden immer davon, unseren Kindern wenigstens eine einigermaßen gesunde Welt hinterlassen zu wollen, aber es werden ja wohl im Moment die Weichen für das Schicksal von 500 Generationen gestellt. Das ist ja irrwitzig!«
Joe hat sich alles in Ruhe angehört und sagt leise: »Da stimme ich euch ja im Grunde zu, aber der Bedarf an Energie läßt sich halt auch nicht aufhalten. Wo soll der Strom aus der Steckdose denn
herkommen? Ohne Kernenergie läßt sich dieser Bedarf in Zukunft nun einmal nicht mehr decken, das kann ich euch sagen.« Nach einer kurzen Pause beugt er sich vor und spricht etwas lauter. »Ich finde es geradezu idiotisch, daß Österreich auf diese Energieform verzichtet hat. Als ob wir eine Insel wären und die Bedrohung für uns geringer würde, weil wir selbst kein Kernkraftwerk haben. Und gleichzeitig wird auch noch überall der Ausbau von Wasserkraft verhindert, weil dafür Flüsse begradigt, Täler verbaut, künstliche Zu- und Abläufe geschaffen werden müssen und die Natur aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Siehe das abgeschmetterte Donaukraftwerk in den Hainburger Auen. Da hast du, mein lieber Bruder, übrigens auch mit deinen öffentlichen Statements einiges zur Verhinderungspolitik beigetragen.«
Er sieht mich lächelnd-herausfordernd an und hält mitten im Gedankengang inne.
Ich nicke nachdenklich. »Ich war überzeugt davon, das Richtige zu tun und mithelfen zu müssen, dieses herrliche Naturschutzgebiet zu bewahren. Heute wäre ich unsicher, aber in Zeiten wie diesen
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