Der Mann mit dem Fagott
doch angefahren und zu Fall gebracht. Ein Polizist war sofort herbeigeeilt und hatte den Bauern beschimpft: »Was fällt dir ein, du verfluchter Mistkerl, dem Barin in den Wagen zu laufen! Hast du nicht gesehen, daß es den Herrschaften beliebt, hier zu fahren?«
Er hatte seinen Schlagstock erhoben und wollte dem auf dem Boden liegenden Mann offenbar noch Prügel versetzen, denn er hatte ganz offensichtlich gegen die allgemeine Regel verstoßen, daß Automobile immer und überall Vorfahrt haben, Fußgänger immer auf sie achten müssen und der Automobilbesitzer bei einem Unfall grundsätzlich immer im Recht ist. Heinrich hatte eingegriffen, dem entgeisterten Polizisten erklärt, daß es seine eigene Schuld gewesen sei, ihn davon abgehalten, den Mann zu bestrafen und obendrein dafür gesorgt, daß der Bauer auf seine Kosten in ein
Krankenhaus gebracht und bestens versorgt und daß seine kaputte Ware bezahlt wurde. Seither hatte er nicht mehr an den Vorfall gedacht - bis heute.
»Ich danke Ihnen, Barin«, wiederholt der Mann und verbeugt sich noch tiefer. »Ich habe schon versucht, Sie in der Bank zu sprechen, aber man hat mich nicht vorgelassen.« Er macht eine Pause. »Ich wollte Ihnen nur sagen, wenn es Ihnen wieder einmal beliebt, jemanden umzufahren, nehmen Sie bitte wieder mich!«
Heinrich schüttelt verständnislos den Kopf. »Wie meinen Sie das? Ich habe Sie doch nicht absichtlich umgefahren. Was damals geschehen ist, tut mir unendlich leid, und ich hoffe, man hat Ihnen den Schaden ersetzt und Sie sind völlig wiederhergestellt?«
Der Mann sieht ihn voll Dankbarkeit an. »Barin, mir ging es noch nie so gut wie in diesen Tagen im Krankenhaus. Ich habe noch nie vorher in einem richtigen Bett geschlafen. Ich habe so viel zu essen bekommen, daß ich davon satt wurde, ich konnte mich mit fließendem Wasser waschen. Ich danke Ihnen! Ich würde gern wieder von Ihnen umgefahren werden.«
Bevor Heinrich noch etwas erwidern kann, verschwindet der Mann nach einer tiefen Verbeugung in der Menge.
Aus einer Nebenstraße plötzlich Lärm, Stimmengewirr, Schreie. Eine kleine Arbeiter-Demonstration ist entstanden, wie sie seit einigen Jahren nahezu täglich scheinbar spontan irgendwo stattfanden. Jemand schreit »swolotsch-kapitalist!« - »Kapitalisten-Schwein!« - in Heinrichs Richtung. Heinrich nimmt die Jungs an der Hand und beeilt sich, den Wagen zu erreichen, obwohl er ihnen zu erklären versucht, daß das alles harmlos sei. Kein Grund zur Besorgnis betont er und hofft, daß die beiden Söhne den beklemmenden Anblick einer eingeschlagenen Schaufensterscheibe an einem der schönen Modehäuser gegenüber nicht wahrgenommen haben.
Er ist froh, als man wieder das Auto erreicht, und im Kampf mit der ungewohnten Technik ist die Beunruhigung von eben und die seltsame Begegnung mit dem Bauern schnell wieder vergessen. Ob der wohl wirklich dachte, daß es zu den Vergnügungen der reichen Leute gehörte, mit ihren Automobilen Bauern umzufahren, will Rudi von seinem älteren Bruder wissen, doch der zuckt nur abweisend mit den Schultern, und Rudi überläßt sich ganz seiner Begeisterung
für die schöne Stadt, die vor dem Wagenfenster vorbeizieht und der Vorfreude auf den heutigen Abend.
Vor dem Theaterbesuch
»Nun halt doch mal still!« Pascha Ziganowa, das Dienstmädchen der Bockelmanns versucht seit einer Viertelstunde, Rudis Schleife zu binden. Das Anziehen der neuen und noch völlig ungewohnten Abendgarderobe bereitet größere Schwierigkeiten als erwartet, zumal Rudi kaum stillhält und Pascha löchert mit Geschichten über Musik und Ballett und Wera und Schwäne und Apollo, die er mit großen Gesten untermalt.
»Das mußt du dir vorstellen, Pascha, die schöne Musik, die wir heute abend hören werden! Und ganz viele Musiker werden spielen. Und ich werde neben Wera sitzen. Wie spät ist es denn? Ich muß mal!« Der Junge ist aufgeregt wie selten und steckt damit auch seine beiden jüngeren Brüder an. Werner mit seinen bald fünf Jahren hat schon allein das Wort »Theater« verzaubert, und sogar der dreijährige Gert will plötzlich mit seinen ältesten Brüdern mitgehen und ist nur schwer mit seinen Spielsachen abzulenken. Kindermädchen Ilja Rechtern zählt die Stunden, bis die Eltern mit den beiden Großen aus dem Haus sind und bei den Kleinen wieder Ruhe einkehrt.
Erwin hingegen hat darauf bestanden, sich ganz allein anzukleiden. Er will dabei keine Hilfe und kein Publikum und hat die Tür zu seinem Zimmer
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