Der Mann mit dem Fagott
geschlossen. Man läßt ihm seinen Willen.
Um so mehr Hilfe braucht Anna, Heinrichs Frau, die von Kindesbeinen an daran gewöhnt ist, von allen Unannehmlichkeiten des Alltags möglichst verschont zu werden. Als Tochter des Bank-Teilhabers Johann Förster ist sie in einem Haushalt aufgewachsen, in dem sie dazu erzogen wurde, eine Dame der vornehmen Gesellschaft zu sein, die sich mit Alltagsdingen nur am Rande abgibt. Sie hatte den Haushalt zu überblicken und die Aufgaben zu delegieren. Schon als junges Mädchen war sie eine »Herrin«, streng erzogen
und auch selbst meist streng im Umgang mit ihren Kindern oder den Dienstboten. Nur gegenüber ihrem Mann Heinrich, ihren Eltern oder engen Freundinnen zeigte sie sich manchmal von ihrer weicheren, weiblicheren Seite. Die vier Jungen sind ihr ganzer Stolz, und sie wissen das. Mit aufgeschlagenen Knien und anderen Wehwehchen aber wendet man sich an das Kindermädchen oder an Pascha. Anna wäre mit solchen Dingen vollkommen überfordert. Sie führte einen vornehmen Moskauer Haushalt, gab große Gesellschaften, repräsentierte als eine der ersten Damen der Stadt. Das war vorrangig.
Die Ehe mit Heinrich, den sie als jungen, aufstrebenden und begabten Mitarbeiter und Schützling ihres Vaters in dessen Hause kennengelernt hatte, war erfolgreich, und dieses Verdienst rechnete sie - ebenso wie die gesellschaftliche Stellung ihrer Familie - auch ein wenig sich selbst zu. Einen Knopf zu schließen oder sich die Haare zu kämmen, stellte sie aber vor eine schier unlösbare Aufgabe. Darum hatte Pascha sich zu kümmern, ein junges Mädchen vom Land, das ihr Geburtsjahr nicht kennt und bereits seit Annas und Heinrichs Heirat im Jahre 1901 als Dienstmädchen bei den Bockelmanns lebt. Damals mochte sie wohl an die zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein. Ihre Eltern, eine arme Bauernfamilie, waren froh, die Tochter auf diese Weise versorgt zu wissen. Und Pascha schien ihrer Familie nicht nachzutrauern. Jedenfalls sprach sie nie über sie, erzählte auch den Kindern niemals von ihrem Elternhaus, obwohl sie ihnen sonst allerlei Geschichten und Märchen erzählte.
»Die Großen sind fertig angezogen«, versichert Pascha zu Annas Beruhigung und legt deren tiefschwarzes Haar in einen strammen, kunstvollen Knoten, steckt eine elegante, zierliche Goldspange hinein, die ganz besonders gut zu Annas Schmuck und der schwarzen Abendrobe paßt. Noch verbarg sie Annas Schwangerschaft ganz gut. Anna fühlt sich wohl wie selten und freut sich darauf, ihren Mann zum ersten Mal seit der viel zu langen Sommerpause des Theaters wieder in die Junkers-Privatloge im Bolschoj zu begleiten.
Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, ein Zupfen dort und da, dann schreitet sie die große Treppe hinab zum Salon, wo Heinrich und die beiden Ältesten sie schon erwarten. Ausrufe des Staunens,
als sie ihre Mutter zum ersten Mal seit langem wieder in festlichen Gewändern sehen. Man verbeugt sich. Heinrich in seinem Frack reicht ihr die Hand und geleitet sie die letzten paar Stufen herab.
Ein kleiner Imbiß, bei dem Rudi kaum einen Bissen anrührt, dann steigt man endlich in den Wagen. Diniert wird heute später, nach dem Theater, in Heinrichs Lieblingslokal, dem »Metropol« nahe dem Bolschoj. Darauf freut auch Rudi sich schon, vor allem auch, weil er Weras »Tischherr« sein wird.
Weras heimliche Liebe
Den Wagen lenkt diesmal natürlich wieder der Chauffeur, wie es sich für einen Abend wie diesen gehört.
Ein kurzer Halt bei der Villa der Knoops. Heinrich steigt aus, um die Gäste des Abends zum Wagen zu geleiten und wird von Baron Gerhard von Knoop, seiner Gattin Gertrud und ihrer Tochter Wera freundschaftlich begrüßt. In dem großzügigen Wagen mit den zusätzlichen Klappsitzen finden alle bequem Platz, und es geht geradewegs, aber in gemessener Fahrt durch die Pokrovka Uliza, den Lubjanskij Prospekt und den Teatralnyj Prospekt zum Bolschoj-Theater.
Mittlerweile ist es dunkel geworden, und die zahlreichen Lichter der Stadt haben es Wera und Rudi angetan und steigern die Vorfreude.
»Moskau ist so schön«, freut Wera sich an beinahe jeder der großzügigen Villen, an der sie vorbeifahren, an den vielen roten und bunten Kathedralen mit den charakteristischen Zwiebeltürmen, den Parks und Klöstern. »Ich möchte nirgendwo anders leben!«
Fröhlich mischt man Deutsch, Russisch und Französisch. Sprachbarrieren gibt es nicht. Rudi und seine Brüder sprechen alle drei Sprachen fließend. Mit der in
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