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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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nannte ihn stets nur »Barin«, Herr, wie in Rußland die Herrschenden von den Dienenden genannt wurden.
    Kropotkin war ein wenig scheu, aber dienstbeflissen, wirkte zufrieden, wenn auch ein wenig verschlossen und undurchschaubar. Schon fast auffallend demütig hatte er Heinrich Bockelmann die Hand geküßt, als der Barin ihn beim letzten Weihnachtsfest in der Bank, das hier traditionellerweise immer nach deutscher Art am 24. Dezember mit Bescherung und Weihnachtsbaum gefeiert wird, persönlich mit Backwerk und Wodka und einer Sonderzuwendung
beschenkte. Es war irgendetwas in seinem Blick gewesen, was Heinrich irritiert hatte, doch er konnte nicht sagen, was es war und maß dem auch nicht viel Bedeutung bei. Er mußte eben noch vieles lernen, um die russische Seele wirklich zu verstehen.
    Heinrich grüßt ihn freundlich, erkundigt sich, ob alles in Ordnung sei, legt seine Akten ab, nimmt ein neues Bündel Papiere mit. Daß die Kinder in Gegenwart des »schwarzen Mannes« immer erstaunlich still wurden und ein wenig verschüchtert wirkten, ist ihm zwar aufgefallen, doch er nimmt es nicht wirklich ernst. Wahrscheinlich ängstigten sie sich vor dem dunklen, ein wenig geheimnisvollen Mann, der hinter seinem dichten Bart und den etwas zu langen, schwarzen Haaren ein wenig seltsam und fremd wirkte. Vielleicht hatten sie irgendwo den russischen Aberglauben aufgeschnappt, wonach Menschen mit einem Muttermal auf der linken Wange Boten eines kommenden Unglücks seien, fast so etwas wie menschgewordene Dämonen und Garanten für Unheil, gezeichnet von der dunklen Macht des Bösen. Wassilij Sergejewitsch Kropotkin hatte solch einen großen, besonders auffälligen und bizarr gezeichneten Leberfleck auf der linken Backe. Und daß seine Erscheinung sehr an den dämonischen Rasputin erinnerte, mochte ein übriges tun. Kinder waren eben so.
    Bei Kropotkins Anblick hatten sie gleich das Weite gesucht und sind ganz in den Globus in Heinrich Bockelmanns Arbeitszimmer vertieft. »New York«, dorthin fuhr ihr Großvater als Kapitän zur See, »Berlin«, die Hauptstadt des Landes, dessen Bürger sie waren. Sogar »Bremen« konnten sie mit einiger Mühe, ganz klein geschrieben, finden. Dort hatte ihr Vater seine Kindheit und Jugend verbracht. Vor allem Erwin möchte das alles irgendwann einmal sehen. Heinrich bereitet die Unberechenbarkeit und Eigenwilligkeit seines Ältesten manchmal Sorgen. Wann immer dieser Junge sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht davon abzubringen. Sein Wille war von ungeheurer Kraft und nicht zu brechen. Da half weder gutes Zureden, geduldiges Erklären, noch Strenge oder Strafen. Diese Haltung würde es ihm im späteren Leben nicht gerade leichter machen, fürchtete Heinrich. Dieser Junge hat nur zwei Möglichkeiten, denkt er immer wieder, entweder er zerbricht an seiner Unnachgiebigkeit, oder er wird ein ganz Großer. Aber sein Erstgeborener hatte in diesem schwierigen Wesen auch etwas,
was Heinrich Bockelmann unendlich imponierte. Rudi war viel zugänglicher, offener, aber auch verträumter. Man würde in der Erziehung dieses indes aufpassen müssen, ihn an die Realitäten der Welt heranzuführen, ohne die Sensibilität des Jungen zu brechen.
    Heinrich konzentriert sich auf das Näherliegende, schreibt eine Notiz für seinen Schwager und Mitarbeiter Werner Vogel, wirft einen Blick in die Bücher auf seinem Pult, dann tritt man wieder auf die Straße. Er spürt den Blick des schwarzen Mannes in seinem Rücken und wundert sich darüber, daß ihn das Gefühl irritiert, doch ehe er weiter darüber nachdenken kann, fällt ihm ein Mann in abgerissener, ärmlicher Kleidung auf, der sich von der anderen Straßenseite in tiefer Verbeugung nähert. Ein Bettler, denkt Heinrich zuerst und will eine abweisende Handbewegung machen, doch irgendetwas an diesem Mann kommt ihm bekannt vor und läßt ihn innehalten. Irgendwo hat er diesen Mann schon einmal gesehen.
    »Barin, ich danke Ihnen«, sagt der Mann plötzlich leise und mit gebeugter Haltung, und im selben Augenblick flüstert Rudi seinem großen Bruder zu: »Ich glaube, das ist der Bauer vom Roten Platz.«
    Erwin nickt, und auch Heinrich erkennt ihn in diesem Augenblick wieder.
    Vor wenigen Wochen hatte er einen Unfall auf dem Roten Platz verursacht, weil ihn die komplizierte Technik des Wagens und die hektische Verkehrssituation wieder einmal überfordert hatten. Er hatte versucht, einem Bauern mit einem Handwagen voll Gemüse auszuweichen und hatte ihn dann

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