Der Mann mit dem Fagott
flüchtenden Ente als zu einem eleganten Automobil paßt. Er liebt die sonntäglichen Ausfahrten mit dem Auto. Wochentags, für die Alltagsfahrten nahm er meistens die Kutsche. Manchmal auch den Wagen. Dann saß aber sein Chauffeur Wasja Kargaschwili am Steuer, ein junger, aufgeweckter, ein wenig schlitzohriger und doch zuverlässiger Georgier mit blitzenden, dunklen Augen und einem bewundernswerten technischen Verstand.
In seiner Freizeit genoß Heinrich es jedoch, den Wagen selbst zu lenken, den Chauffeur auf dem Beifahrersitz. Er brauchte ihn, um den Wagen mit der Handkurbel zu starten; ein Vorgang, der Fingerspitzengefühl und technisches Können erforderte - und Bereitschaft, sich schmutzig zu machen. Wenn der Motor kalt war, brauchte es oftmals zahlreiche Versuche, um ihn in Gang zu bringen. Außen wurde gekurbelt, innen mußte im richtigen Moment einer der beiden kleinen Hebel in der Mitte des Lenkrads auf Frühzündung und, sobald der Wagen angesprungen war, auf Spätzündung gestellt werden, damit er nicht wieder abstarb. Immer wieder gab es einen lauten Knall, eine Rauchwolke. Wenn aber der Motor einmal angesprungen war, lief er wunderbar ruhig und gleichmäßig. Ein Schnurren, das Heinrich Bockelmann sofort gute Laune machte.
Das Fahren hatte er sich selbst beigebracht. Sehr zur Beunruhigung Wasjas, der sonntags mit besorgtem Blick ängstlich-verkrampft auf dem Beifahrersitz saß und erleichtert aufatmete, wenn man wieder wohlbehalten zu Hause ankam. Heinrich Bockelmann fuhr leidenschaftlich gern, aber schlecht, und der Verkehr in dieser Stadt war hektisch. Pferde scheuten vor den ungewohnten Autos, die traditionell rücksichtslosen Droschkenkutscher fluchten und schimpften, Fußgänger wußten nicht, wohin sie ausweichen sollen, eine Straßenbahn, noch wie die meisten von Pferden gezogen, obwohl es schon einige wenige elektrische gibt, bimmelte plötzlich heftig.
Ob diese komplizierten Gefährte sich als Fortbewegungsmittel im Alltag durchsetzen würden, daran hegte auch Heinrich so manchen Zweifel, aber Spaß machte es allemal, und Technik in jeglicher Form faszinierte ihn sowieso.
»Schau mal, da ist das Bolschoj«, ruft sein zweitgeborener Sohn Rudi von hinten. Er ist acht Jahre alt und liebt dieses weiße Gebäude mit den Marmorsäulen und dem Gott Apollo mit dem vierspännigen Wagen als Schutzpatron auf dem Dach.
Heute begeistert ihn dieser Anblick ganz besonders, denn abends würde Heinrich mit seiner Frau Anna und dem befreundeten Ehepaar Knoop die beiden ältesten Söhne Erwin und Rudi zum ersten Mal ins Theater ausführen. Man würde hierher kommen, ins Bolschoj-Ballett, um »Schwanensee« zu sehen. Rudi zeigte
seine Vorfreude offen, während Erwin sich betont gelassen und erwachsen gab, doch daran, daß er in diesen Tagen noch ein wenig störrischer und aufsässiger war als sonst, konnten Heinrich und Anna erkennen, wie sehr auch ihn der bevorstehende erste Theaterabend seines Lebens beschäftigte. Heinrich fährt besonders langsam am Theater vorbei, damit die Söhne den Anblick genießen können.
Zum ungezählten Male möchte Rudi von ihm die Geschichten um den Gott Apollo hören, den Gott der geistigen Ordnung und der schönen Künste, der Wahrheit und des Lichts, den Gott, der das Theater und die Musik wie auch die Weisheit vor allen Gefahren beschützte. Zwar versteht er noch nicht alle diese Geschichten, aber er liebt es ebenso, sie zu hören, wie sein Vater es liebt, sie zu erzählen.
Heinrich Bockelmann ist fasziniert von Literatur, Musik, Kunst. Die Ausgaben der deutschen und russischen Klassiker, aber auch der neuen Literatur besorgt er zweimal im Monat im Buchladen Knebel in der Rodjestwenka nahe der Bank. Abends, wenn die Familie zu Hause versammelt war, las man gemeinsam die großen Klassiker, vergnügte sich mit Gedichten, oder er erzählte ihnen die klassischen Heldensagen, die die Söhne gar nicht oft genug hören konnten. Besonders die Geschichten von Apollo hatten es Rudi angetan. Ob man alles verstand, war dabei nicht wichtig. Die Atmosphäre war es, die zählte, das herrliche Kribbeln, das er beim Klang von Heinrichs voller, kräftiger Stimme verspürte, wenn sie sich in dieser wunderbar geheimnisvollen literarischen Sprache voll entfaltete.
Wie jetzt, als Heinrich Rudis Drängen nachgibt und ihm wieder einmal von Apollos Heldentaten erzählt.
Während Heinrich von Feinheit und mildem Glanz, von Theater und Musik spricht, denen Apollo Schutz gewährt, entsteht für
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