Der Mann mit dem Fagott
Rudi das Bild eines wunderbaren strahlenden Helden, der mächtig im Himmel des Theaters thront und allen Gefahren trotzt.
Vor der Junker-Bank am Kusnezkij Most hält man, mitten in einer der wichtigsten und zentralen Einkaufs- und Handelsstraßen Moskaus. Sogar sonntags wird hier vor den prächtigen französischen Modehäusern, den Delikatessengeschäften und auch den Börsennachrichten in den Schaufenstern der Junker-Bank promeniert.
Fast immer sieht Heinrich hier auch sonntags nach dem Rechten,
legt einige zu Hause bearbeitete Papiere auf die Schreibtische und Stehpulte seiner Angestellten, versieht sie mit kleinen Anweisungen, nimmt anderes mit, wirft noch einmal einen Blick auf seinen Terminkalender für die kommende Woche. Rudi liebte es, seinen Vater dabei zu begleiten, aber heute ist er ungeduldig. »Wie spät ist es denn, wie lange dauert es denn noch?«
Rudi hüpft von einem Bein auf das andere. »Laß mich schauen, wie spät es ist, bitte!«
Heinrich Bockelmann schickt sich mit der Geduld, die für ihn zu den besonderen Vergnügungen des Sonntags gehört, wieder einmal an, die schwere goldene Taschenuhr aus der Tasche seiner Weste zu holen.
Mehr als zwanzig Jahre war es nun schon her, seit sein Vater sie ihm zum Abschied aus Bremen geschenkt hatte. Seither hatte sie Heinrich immer begleitet, und sie war ihm auf seinem Weg ein Glücksbringer geworden. Ein Stück Halt und so etwas wie ein gutes Omen. Auch seine Kinder liebten die Uhr, die in so unvergleichlichen Tönen der Zeit ihren ganz besonderen Klang verlieh.
Die elegante Geste, mit der er sie zur Hand nimmt, gehört zum Ritual. Er läßt sich, sehr zur Verwunderung der Passanten, in seinem edlen grauen Gehrock in die Hocke nieder, um mit seinem Zweitältesten auf Augenhöhe zu sein und hält ihm die Uhr vor sein Gesicht.
»Mal sehen, ob du heute die Zauberkraft besitzt. Puste - puste, Rudjascha!« Der Junge pustet aus Leibeskräften.
»Das war doch noch gar nichts! Fester!« Rudis Augen strahlen. Konzentriert pustet und pustet er, bis der Deckel der Uhr wie von Zauberhand aufspringt und eine leise Melodie hörbar wird, die satten, tiefen Schläge der Stunden, das Klingen der Viertel- und halben Stunden und das Summen und Ticken der Minuten.
»Nun, wie spät ist es?« will sein Vater von ihm wissen.
»Viertel nach drei«, antwortet Rudi stolz.
Heinrich lächelt. »Genau. Also sind es nicht mehr ganz fünf Stunden bis zur Vorstellung und ein bißchen vorher ziehen wir uns um und holen Wera und ihre Eltern zu Hause ab. Du kannst also ganz ruhig sein, wir haben noch viel Zeit.«
Rudi nickt. Der Gedanke an Wera lenkt ihn ein bißchen von seiner Unruhe ab.
Die knapp dreizehnjährige Wera Knoop, die Tochter von Freunden der Familie, ist seit einigen Jahren Elevin am Bolschoj-Theater. Ein zauberhaftes, stilles, feingliedriges Mädchen mit schwarzem, langem gelocktem Haar und herrlichen dunklen Augen, in denen sich Rudi immer wieder verlor, wenn sie vom Tanzen erzählte und von Musik und von Gedichten, die sie las. Sie war das wunderschönste junge Mädchen, das Rudi je in seinem Leben gesehen hatte. Manchmal hatte er sie gemeinsam mit seinem Vater von einer der Proben am Bolschoj abholen dürfen, hatte sie dabei beobachtet, wie sie tanzte, wie zerbrechlich und voll Anmut sie dann war, wie sie zu schweben schien, ein bißchen so als wäre sie ein Engel.
In der Bank herrscht die Stille des Sonntags, an dem sie geschlossen ist. Heinrich grüßt im Vorbeigehen Wassilij Sergejewitsch Kropotkin, den Hausmeister, Monteur und Heizer der Bank, den alle nur »tschornyi tschelowek« nennen, den schwarzen Mann. Ein stiller, etwas düster wirkender Mann, der immer schwarze Arbeitskleidung trägt, im Winter, wenn er mit dem Kohleeimer unterwegs ist, um zu heizen, auch eine dunkle Schürze. Er mochte ungefähr in Heinrichs Alter sein, doch seine Züge waren bereits vom harten Leben auf dem Land gezeichnet, das er vor einiger Zeit verlassen hatte, um sein Glück in der Stadt zu suchen. Heinrichs Schwiegervater hatte ihn mehr oder weniger von der Straße aufgelesen, hatte ihm eine Anstellung und ein kleines Zimmer im hinteren Teil der Bank gegeben, und seither sorgte der »schwarze Mann« dafür, daß die Räume gut geheizt und belüftet waren, tauschte Glühbirnen aus, ölte Schlösser, leerte die Papierkörbe und verrichtete tausenderlei Arbeiten mehr. Er war immer da, wenn Heinrich Bockelmann die Bank betrat, grüßte ihn immer mit einer tiefen Verbeugung,
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