Der Mann mit dem Fagott
Rußland geborenen Mutter Anna und untereinander sprach man meistens russisch, mit dem
Vater eher deutsch. Und Französisch lernte man sowieso von Kindesbeinen an. Es war die vornehme Sprache, die bei Hofe und in den Salons, bei Teegesellschaften und in den Foyers der Theater gesprochen wurde. Wer dem ersten Rang der russischen Gesellschaft angehörte, mußte fließend Französisch sprechen.
Wera beginnt von »Schwanensee« und vom Bolschoj-Ballett zu schwärmen, in dem sie seit langem Unterricht nimmt: »Stellt euch vor, wenn ich so weitermache, darf ich nächstes Jahr bei den Aufführungen im Corps de Ballet mittanzen. Ist das nicht großartig!«
Ihr ganzes Wesen ist in fröhlichem Aufruhr. Sie erzählt von allen Einzelheiten des Balletts, das man heute abend sehen wird, und streicht sich immer wieder die vollen, dichten Haare aus der Stirn. Sie ist im Überschwang wie selten.
Rudi hängt wie immer an ihren Lippen, während Erwin unbeteiligt tut und doch nicht unbeeindruckt ist. Sie hält kurz inne und nimmt in schnellem Entschluß ein mit ihrer schönen, zierlichen Schrift auf ein gutes, vom vielen Lesen schon ein wenig beanspruchtes Blatt Papier abgeschriebenes Gedicht aus ihrer Tasche und reicht es nach leichtem, errötendem Zögern Rudi. »Das ist mein Lieblingsgedicht. Wenn du magst, darfst du es lesen.«
Wer immer sie kannte, hatte das Blatt schon oft in Weras Hand gesehen, auch Rudi hatte Heinrich schon manchmal gefragt, was das wohl sei, was sie da immer lese, doch gezeigt hatte sie es ihm noch nie, und er hätte es auch nie gewagt, sie darum zu bitten. Gespannt entfaltet Rudi das Blatt und liest. Heinrich schielt ihm unauffällig über die Schulter und schaltet die Leselampe an:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
»Das ist von Rainer Maria Rilke«, erklärt sie stolz. Sie schwärmte schon lange für diesen jungen, aufstrebenden Dichter, mit dem ihre Familie seit langem befreundet war. Sie hatte ihn auch selbst schon ab und zu in München getroffen, wo ihre Eltern ihren zweiten Wohnsitz hatten und wohin sie immer wieder einmal reisten. Wenn sie von Rilke sprach, röteten sich ihre Wangen, und es
schien fast, als berge schon allein Rilkes Name für sie ein Geheimnis, das sie verzauberte - vielleicht ähnlich wie das Geheimnis, das Apollo für Rudi war.
Wera trägt immer ein Photo Rilkes bei sich und das Gedicht. Rudi liest es noch ein zweites und ein drittes Mal durch. Heinrich lächelt und weiß, daß die Worte ihm eine Atmosphäre entfalten, die er liebt, ohne sie zu verstehen. Er selbst wundert sich darüber, daß dieses so junge, begeisterungsfähige Mädchen ausgerechnet ein Gedicht vom ungelebten und nicht vollendeten Leben bei sich trägt, als ahne sie einen viel zu frühen Tod. Es ist ihm unheimlich, doch ehe er weiter darüber nachdenken kann, sind plötzlich, aus irgendeiner dunklen Gasse wieder die Sprechchöre zu hören, die zur Zeit in dieser Stadt fast schon zum Alltag gehören, und völlig unerwartet wird ein Stein gegen das Auto geschleudert. Er verfehlt den Wagen nur knapp, erschreckt aber den Fahrer, der um seine Fassung ringt. Die Passagiere haben kaum etwas bemerkt. Eine leise Irritation im Ausweichmanöver des Fahrers.
»In der Nähe des Theaters gibt es sehr oft Demonstrationen«, warnt Wasja seine Fahrgäste. »Vielleicht empfiehlt es sich, einen Umweg zu fahren.« Man hat noch etwas Zeit und stimmt zu.
Heinrich und Baron von Knoop ereifern sich in einer heftigen Diskussion darüber, welche politische Strömung für diesen Steinwurf verantwortlich gewesen sein könnte. Heinrich ist davon überzeugt, daß die Urheber in den Reihen der immer aggressiver auftretenden Sozialisten zu suchen seien, mit ihrem Haß gegen jeglichen Reichtum, gegen die »swolotsch-kapitalisty«, wie er selbst ja erst heute nachmittag, bei der kleinen Demonstration, beschimpft worden war.
Baron von Knoop hingegen argumentiert heftig für einen der immer häufiger werdenden Anschläge der sogenannten »Schwarzhunderter«: »Diese Hinterhältigkeit spricht doch viel eher die Sprache dieser verbitterten Anti-Demokraten, Anti-Deutschen, Anti-Semiten. Einen Stein aus dem Hinterhalt zu werfen, das ist doch die typische Aggression der Verlierer der Reformbewegungen. Haben Sie noch nichts von den Plünderungen und der sinnlosen Gewalt gehört, mit der die ›Schwarzhunderter‹ ihrer
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