Der Mann mit dem Fagott
Ereignisse vor dem Theater, sofort vergessen lassen. Diener mit silbernen Tabletts reichen Kaviar und feine Degustationen, andere gehen mit Tabletts voll Gläsern von Gast zu Gast, bieten Champagner für die Erwachsenen und Zitronenlimonade für die Kinder an. Man greift zu Lachsbrötchen und dem edlen schwarzen Malosol-Kaviar, doch Rudi hat dafür wenig Sinn. Er hat Angst, sich den neuen Anzug zu bekleckern. Und vor allem
möchte er endlich ins »richtige Theater«. Das Herumstehen im Foyer dauert ihm schon viel zu lange. Er ist in Apollos Palast, in einer Märchenwelt, und die möchte er nun auch endlich erkunden. Er weiß gar nicht, wohin er bei all den Lüstern und Kerzen und all den prächtig gekleideten Menschen zuerst blicken soll.
Heinrich trifft viele Bekannte, grüßt nach allen Seiten.
Die kleine Gruppe um den deutschen Bankier und seine Gäste steht schnell im Mittelpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit.
Ganz in der Nähe betritt ein großgewachsener Glatzkopf mit dichtem Bart und undurchdringlichem Gesicht das Foyer: Der Petersburger Bankier Dmitri - genannt Mitka - Rubinstejn. Ein schwer zu durchschauender Mann mit allen erdenklichen, da und dort wohl auch dubiosen, Kontakten. Einer seiner Freunde soll - so munkelt man - der höchst fragwürdige aber mächtige Mönch Rasputin sein. Rubinstejn behandelt Heinrich immer irgendwie ein wenig von oben herab, bleibt dabei aber immer freundlich, als tue er ihm schon damit einen Gefallen, daß er ihn überhaupt bemerkt. Auch jetzt nähert er sich, begrüßt ihn mit Handschlag und laut tönendem: »Bockelmann, mein Freund! Wie schön, Sie hier zu sehen! ›Schwanensee‹, das kann man sich natürlich nicht entgehen lassen, auch wenn es immer anstrengender wird, ins Theater zu gehen! Stellen Sie sich vor, beinahe hätte ich noch einen Stein an den Kopf bekommen! Diese Leute … Wird Zeit, daß die Polizei andere Saiten aufzieht. Aber einige Ihrer Freunde scheinen ja mit dieser neuen Gesellschaft - Pöbel darf man ja kaum noch sagen - einer Meinung zu sein.« Dabei deutet er auf die rote Armbinde von Baron Knoop und wendet sich, ohne Heinrichs Antwort abzuwarten, schon wieder anderen Bekannten zu.
Heinrich versteht im ersten Moment nicht, was Mitka Rubinstejn meint. Er hat die rote Armbinde noch gar nicht bemerkt, die auch Baron von Knoop, wie viele andere Theater-Besucher, über seinem Frack trägt. Eine Geste der Sympathie für die Demonstranten auf der Straße. Als Intellektueller, Schriftsteller und Angehöriger der führenden Gesellschaftsschicht fühlt er sich berufen, ein Bindeglied zwischen alten Werten und neuen Ideen zu sein.
»Es muß sich in diesem Land einfach etwas verändern! Dieser hochmütige Zarenhof führt unser Rußland in die sichere Katastrophe! Nikolai ist doch unfähig zu regieren, und die wichtigen Ämter
werden sowieso lange schon nach den Wünschen dieses seltsamen Rasputin besetzt und nicht nach Fähigkeiten und dem, was für dieses Land am besten ist! Es müssen endlich einmal andere, neue, realistische Kreise hier zu wirken beginnen, der Dekadenz Einhalt geboten werden«, verkündet Baron von Knoop und nippt genüßlich an seinem Champagner.
Heinrich ist von der roten Armbinde etwas befremdet, vor allem nach der Auseinandersetzung auf der Fahrt hierher. Verbrüderung mit dem Pöbel, das geht ihm einfach zu weit.
Viele Deutsche in diesem Land engagieren sich für die Anliegen der Reformer. Es gibt sogar unter den »Oktobristen«, wie die »Partei des 17. Oktober« verkürzt genannt wird, die sich für Reformen und eine Umgestaltung des Landes in eine konstitutionelle Monarchie und Selbstherrschaft des Volkes einsetzt, eine eigene deutsche Gruppe, in der viele von Heinrichs Freunden Mitglied sind. Andreas Baron von Knoop, ein Verwandter von Gerhard von Knoop, ist ihr Vorsitzender. Aber zwischen Engagement für die Oktobristen, die schließlich jeden Extremismus ablehnen, von welcher politischen Seite auch immer er kommen möge, und dem Tragen einer roten Armbinde als Zeichen der Sympathie mit den Kommunisten, die deutlich zeigen, daß sie auch vor Gewalt nicht zurückschrecken, liegt doch ein gewaltiger Unterschied, der Heinrich mehr als unbehaglich ist.
Für Heinrich steht Aufklärung im Zentrum, Bildung, Erziehung des Volkes. Solidarisierung im Sinne einfacher Gleichmacherei ist ihm ein Greuel doch er hält sich an diesem Ort zurück, und sich deswegen mit einem guten Freund zu streiten, lohnt sich einfach nicht.
Ein Offizier in
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