Der Mann mit dem Fagott
Lande an sich rissen und veränderten, »eindeutschten«. Man sagte ihnen nach, das russische Selbstverständnis und Selbstbewußtsein, die russische Kultur zu gefährden.
Sowohl Heinrich als auch Baron von Knoop waren angesichts
dieser Entwicklung angespannt, und man sprach da und dort auch bereits über ein - zumindest vorübergehendes - Verlassen des Landes, bis die Situation sich wieder beruhigt habe. Doch letztendlich war man davon überzeugt, daß diese Beruhigung der Lage sich in nicht allzu ferner Zeit einstellen würde.
Für Rudi sind alle diese Dinge ganz weit weg. Politik, das war etwas Fernes, etwas, über das man sich auseinandersetzte, das die Erwachsenen vor Aufgaben stellte, die man löste und das ihm und der Familie niemals zu nahe kommen oder gefährlich werden würde, da war er sich ganz sicher. Nur die Gereiztheit in der Stimme seines Vaters und die Worte vom Wegziehen machen ihm etwas angst, doch er vertraut auf die Kraft seines Schutzherrn. Voll Vorfreude blickt er aus dem Fenster. Das Theater ist bereits aus der Ferne zu sehen.
Die Lichter, die es magisch anstrahlen, verleihen ihm ein geheimnisvolles Aussehen, ein Glänzen, als würde es aus sich selbst heraus leuchten. Rudi kann sich von dem Anblick kaum lösen, ist in jeder Kurve, in der das Haus aus dem Blickfeld verschwindet, voll gespannter Ungeduld, es hinter der nächsten Ecke wieder zu erspähen und vergeht ganz in dem Spiel aus Erwartung und Entdeckung, so daß er die vielen Menschen vor dem Theater, dem man sich langsam aus einer Nebenstraße nähert, erst gar nicht bemerkt. Man hat sich mit roten Fahnen ausgerüstet und skandiert: »Nieder mit dem Zaren« und »Alle Macht den Räten«. Niemand greift ein. Die Polizei hält die Gruppe nur auf Abstand.
Heinrich und Anna überlegen, den Theaterbesuch abzusagen, auch der Kinder wegen, doch auch Baron von Knoop beschwichtigt. Diese Demonstrationen vor dem Theater seien doch seit sieben Jahren Tradition, seit jenem denkwürdigen Tag im Oktober 1905, als der Zar die Reformwünsche der Bevölkerung nach all den Streiks und Unruhen endlich anerkannt und die Duma zum ersten Mal einberufen habe. Damals sei es hier vor dem Bolschoj zu einer spontanen Verbrüderung zwischen Arm und Reich gekommen, zu einem neuen Aufflackern von Hoffnung für dieses Land, und die Demonstrationen vor dem Bolschoj seien nur dazu da, diesen Geist wachzuhalten. Sie seien fast immer friedlich verlaufen, und auch jetzt würden die Theaterbesucher ja ganz offensichtlich nicht angegriffen. Man wolle wohl nur Aufmerksamkeit erregen und vielleicht
sogar um Sympathie unter den Spitzen der Gesellschaft werben, ein durchaus vernünftiges Anliegen also …
Das Argument der Friedfertigkeit überzeugt auch Heinrich und Anna, und Rudi fällt vor Erleichterung ein riesiger Stein vom Herzen, als man sich entschließt, hineinzugehen. Der Chauffeur bahnt sich im unvermeidlichen Moskauer Verkehrschaos seinen Weg vor den Eingang des Theaters. Von beiden Seiten drängelt sich Wagen an Wagen, Hupkonzerte, scheuende Pferde. Auf der anderen Straßenseite gehen die Pferde einer noblen »lichatsch«-Kutsche laut wiehernd durch. Lärm und Gezeter von allen Seiten. Als man die Türen öffnet, kann man die Sprechchöre deutlicher verstehen. »Nieder mit dem Zaren!« und aus einer anderen Richtung: »Nieder mit den Deutschen, nieder mit den Juden!« Rudi hat keine Ahnung, was hier vor sich geht. Erstaunt betrachtet er das Schauspiel, dessen Gegensätzlichkeit größer kaum sein könnte: Hier Glanz und Pracht und Licht und schöne Kleider und Bedienstete, dort Männer in etwas zerschlissener Kleidung, viele mit langen Bärten, überall rote Fahnen, Spruchbänder, getragen von seltsamen Gestalten, deren glänzender, durchdringender Blick Rudi fesselt und verwirrt.
Der Moment der Irritation geht schnell vorbei. Viel zu sehr fasziniert ihn das strahlende Haus, die prächtig gekleideten Gäste, die Pagen in ihren rot-goldenen, phantasievollen Uniformen, die die Gäste sofort empfangen und ins Theater geleiten. Baron von Knoop bückt sich nach einem der Flugblätter in russischer, französischer und deutscher Sprache und liest es interessiert, während man unbehelligt eintritt.
Sofort ist man umschlossen von einer vollkommen anderen Welt. Diener nehmen den Gästen die Mäntel ab, geleiten sie über den roten, weichen Teppich ins besonders noble Foyer vor den Logen, in dem die strahlenden Lichter der Lüster und Kerzen Rudi die sonderbaren
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