Der Mann mit dem Fagott
höflich bitten, beschließt er.
Mittlerweile füllt der Saal sich immer mehr. Überall, auch in der Zarenloge, Offiziere in Garde-Uniformen mit Frauen in Kleidern der neuesten Pariser Mode, dazwischen Zivilisten, die Spitzen des Wirtschafts- und Kulturlebens in Fracks, zum Teil mit Orden dekoriert. Und sogar einen jungen Mann von einem der Husarenregimenter kann er erkennen, mit ihren ganz besonderen, prächtigen Uniformen, bei denen der rechte Arm nach alter Tradition immer frei bleibt, um jederzeit für Fechtkämpfe bereit zu sein.
Heinrich nimmt sich noch einmal die Zeit, um den Söhnen die Dimensionen des Stückes zu erklären, das sie gleich hören werden, die geniale Begabung des lange Zeit über verkannten Pjotr Iljitsch Tschaikowskij, sein unglückliches Leben, seinen tragischen Tod wenige Tage nach der Uraufführung seines letzten Werkes, der berühmten sechsten Symphonie »Pathétique«. Heinrich erzählt von der prunkvollen Beerdigung, die er als ganz junger Mann in St. Petersburg miterlebt hat. Sogar der Zar war anwesend. Er spricht vom Einfluß der deutschen Kultur auf diesen zutiefst russisch fühlenden Künstler, von der deutschen Romantik mit ihrer mythischen Sagenwelt, der Musik Wagners und davon, daß das Stück, das sie jetzt sehen werden, ein ganz besonderes Märchen sei, leicht, farbenfroh, aber auch ein wenig traurig. Mehr zu sich selbst fügt er hinzu, daß große Kunst fast immer auch etwas mit Traurigkeit zu tun habe, mit leichter Wehmut und Einsamkeit, die der Künstler in Musik verwandle, die die Seele berühre, oder in Literatur oder Malerei.
Diese leisen Worte Heinrichs versteht Rudi noch nicht so ganz. Er hat jetzt auch keinen Sinn für so komplizierte Gedanken.
Endlich entsteht auch Bewegung in dem bisher leeren Graben vor der Bühne, in dem einige große Instrumente neben leeren Stühlen stehen. Von seinem schönen Platz aus kann er alles ganz genau sehen. Kontrabässe erkennt Rudi, und ganz hinten die große Pauke. Jetzt treten viele Herren ein, im schwarzen Frack, die meisten mit ihren Instrumenten in den Händen. Geigen, Flöten, Klarinetten und sogar ein Fagott. »Papa, das ist doch ein Fagott, genau wie bei der Figur, die wir zu Hause haben!«
Heinrich lächelt, ganz in Gedanken versunken. Ein Augenblick voller Erinnerungen: Bremen, das Weihnachtsfest, die seltsam verschneite
Stadt, der rauhe, sehnsuchtsvolle Klang, der ihn so eindringlich berührte, der Mann mit dem Fagott, den er nie in seinem Leben vergessen hat, seine Augen, die er irgendwoher kannte und doch nicht wußte, woher. Und dann, nur wenig später in Moskau, der kleine Antiquitätenladen in der Twerskaja, den er aus einer Stimmung heraus betrat. Die fast erschreckte Faszination, als er genau so eine Figur in Bronze dort hat stehen sehen: ein Mann mit einem zerknitterten Zylinder, einem Gehrock und einem Fagott. Alles stimmte überein. Sogar die leicht vorgebeugte Haltung entsprach seinen Erinnerungen an den geheimnisvollen Musiker in Bremen.
Er ging immer wieder hin, sah sich in dem romantischen, farbenfrohen Laden um, in dem er dieses kleine Stückchen Heimat gefunden hatte, bestaunte die Figur, lernte sie immer besser kennen, beschloß, daß er sie haben mußte. Irgendwann. Auch wenn er niemals hinter ihr Geheimnis kommen würde, die unerklärbare Verbindung zwischen dem Fagottisten in Bremen und dieser Bronzefigur hier in Moskau, das eine ein Abbild des anderen. Er sparte jede Kopeke, die er von seinem kleinen Anfangsgehalt abzweigen konnte.
Eines Tages, kurz bevor er die Summe zusammenhatte, die ungefähr dem Wert der Figur entsprechen mochte und in den Laden ging, um eine Anzahlung zu leisten, war die Figur verschwunden. Verkauft, wie der Händler ihm mit bedauerndem Blick erklärte. Er habe sie eigentlich gar nicht weggeben wollen. Sie sei schon seit Jahrzehnten in dem Laden gestanden, er habe sich so sehr an sie gewöhnt, und auch sein Sohn habe sie so sehr geliebt. Aber der Käufer habe immer mehr dafür geboten, und was solle man machen, man müsse ja auch irgendwie überleben …
Heinrich konnte seine Enttäuschung kaum verbergen.
Wochen vergingen mit den Vorbereitungen für seine bevorstehende Hochzeit. Der Verlust der Figur geriet darüber ein wenig in den Hintergrund, bis er an seinem Hochzeitstag inmitten all der Päckchen und Geschenke ein ziemlich schweres, ungewöhnlich geformtes Paket vorfand, das er, einem unbestimmten Gefühl folgend, sofort öffnete. Darin lag - der »Mann mit dem
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