Der Mann mit dem Fagott
Zigarettenfabrik mit dem modern französisch klingenden Namen »Compagnie Laferm« in St.
Petersburg erhebt sich und höhnt: »›Unsere Seele!‹ Ach, wie reizend! Es ist in Wahrheit doch viel schlimmer! Es spaltet unsere Freundschaften und sogar unsere Familien! Wir erleben hier eine Katastrophe, der wir uns alle nicht entziehen können, wenn es uns nicht auf diplomatischer Ebene gelingt, sie abzuwenden! Wir sorgen uns um unsere Betriebe, aber vielleicht werden wir uns bald über unser nacktes Leben Sorgen machen müssen. Es gibt immerhin Drohungen, uns Deutsche im Fall einer Kriegserklärung Deutschlands aus unseren Häusern zu treiben und samt unseren Familien totzuschlagen. Gejammer über zerrissene Seelen hilft uns hier wirklich nicht weiter!« Und ganz leise, aber eindringlich fährt er fort: »Wenn auch nur einiges von dem eintritt, was zu befürchten steht, scheint mir ein Ende der Zivilisation und des europäischen Gedankens bereits eingetreten - auch bei Ihnen, meine Herren!«
Bedrücktes Schweigen im Raum. Verlegenheit. Der Baron kritzelt mit wichtiger Geste etwas auf sein Notizblatt, Fritz Eggler stopft seine Pfeife. Man nimmt ein wenig von der »Sakuska«, die wie bei jeder anderen Besprechung auch garniert auf den Tischen bereitsteht. Russische Vorspeisen: Salzgurken, halbierte Eier mit Kaviar und dergleichen kleine Happen mehr. Heinrich Bockelmann bedient sich ohne Appetit und schaut auf seine Uhr. Ein Blick, der ohne Aussagewert bleibt. Die Zeit spielt keine Rolle an diesem Tag, in diesem Raum. Den Blick des jungen russischen Leutnants auf dem kleinen Bahnsteig irgendwo südlich von hier vor Augen. Das Gefühl, ein Spiel zu spielen, das man nur verlieren kann. Und doch gespannte Hoffnung. Wie ein Spieler, der seinen letzten Einsatz macht. Eine allerletzte Chance. Man kann sich nicht entziehen. Es geht um alles oder nichts. Die Kugel rollt. Man hat nicht mehr viel Zeit.
»Wenn’s zum Äußersten kommt, dann können wir unsere Firmen wirklich durch nichts mehr schützen. Im schlimmsten Fall müssen wir versuchen, unsere Familien und unsere eigene Haut zu retten! Ergebenheitsadresse hin oder her. Wir sind sowieso in der Hand des Zaren. Das müssen wir ihm nicht erst schriftlich geben. Und uns vor jenen Gruppen im Land zu schützen, die unser Leben bedrohen - dazu ist auch der Zar nicht in der Lage!« Johann Kirchner, Inhaber eines großen Kalenderverlags macht aus seiner Mutlosigkeit keinen Hehl. »Vielleicht sollten wir aber für alle Fälle unsere
Betriebe vertrauenswürdigen russischen Staatsbürgern überschreiben und für uns selbst und unsere Familien freies Geleit aushandeln. Ich denke, das ist unsere einzige Chance, wenn wir vielleicht irgendwann zurückkehren wollen.«
Allgemeines Aufbegehren. Unruhe im Saal. Bedrückte Zustimmung und heftige Ablehnung. Unvereinbare Fronten. Aufgebrachtheit.
Im Chaos allgemeiner Ratlosigkeit erhebt sich ein junger, großer, schlanker Mann mit fast schulterlangen Haaren und etwas extravaganter Kleidung, er stellt provozierend seine rote Armbinde zur Schau. Blitzende Wut in seinen blauen Augen.
Baron von Taube versucht, ihn zurückzuhalten. »Du wirst dich hier nicht einmischen, Junge! Ich habe deine jugendlichen politischen Launen lange genug toleriert, aber jetzt spreche ich ein Machtwort: Setz dich und behalte deine Ansichten für dich!«
Doch der junge Mann schüttelt die beschwichtigende Hand auf seinem Arm einfach ab. »Laß mich, Vater! Du wirst mir nicht länger den Mund verbieten! Diese Zeiten sind vorbei! Ich pfeife auf deine ach so noble ›Toleranz‹! Du und deine mächtigen und reichen Freunde hier … wenn ihr wüßtet, wie widerwärtig mir euer Gefasel ist, eure Angst um eure dicken Bäuche und fetten Bankkonten. Jeder von euch mit euren Villen und exquisiten Manieren und mindestens zwanzig Dienstboten, die den ganzen Tag um euch herumscharwenzeln und aufpassen, daß eure fetten Ärsche es bequem haben.«
Tumult im Raum. Doch der junge Baron fährt völlig unbeeindruckt fort, die Zwischenrufe mühelos übertönend: »Ja, schimpft nur ruhig, darüber kann ich nur lachen. Was bildet ihr euch eigentlich ein? Da draußen hungern Menschen. Sie schuften vom Morgengrauen bis zur Dämmerung und tragen Lumpen und frieren und haben trotzdem nicht das nötigste für sich und ihre Familien auf dem Tisch. Aber Hauptsache, euch geht’s gut. Lobt euch selbst für eure Heldentaten, die ihr in diesem Land vollbracht habt und schämt euch nicht einmal
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