Der Mann mit dem Fagott
Wirklichkeit draußen halten. Heinrich Bockelmanns Aufmerksamkeit ist fiebrig geschärft.
Baron Friedrich von Taube, Direktor der Lebensversicherungsgesellschaft Nadezhda - »Hoffnung« - wartet, bis das allgemeine Gemurmel sich wieder etwas gelegt hat, fährt dann fort: »Diese Besprechung hier findet eigentlich um einige Wochen zu spät statt. Wir hätten schon viel früher all unsere Kräfte vereinen und handeln müssen. Die Eskalationen der neuesten Zeit hätten uns nicht so unvorbereitet treffen dürfen. Vor wenigen Tagen hat man hier in St. Petersburg die deutsche Botschaft gestürmt, meine Herren! Man hat sie geplündert und alle Möbel, Kunstwerke, sogar die große Statue vom Dach in die Fontanka geworfen. Mit Wissen und Billigung der Polizei. Und jetzt: Entlassung aller deutschen Angestellten, Aufforderung, abzuwarten, bis man uns mitteilt, wie man mit uns zu verfahren gedenkt. Wir müssen den Russen zeigen, daß sie das mit uns nicht machen können!« Er macht eine rhetorische Pause, um dann mit geballter Aggression zum Kern seiner Aussage zu kommen: »Wer war es denn, der die Wirtschaft in diesem Land aufgebaut hat! Das waren wir Deutschen ! Was wäre denn dieses Land ohne uns? Ein armseliges, hoffnungslos rückständiges Reich, in dem nichts funktioniert!« Allgemeine Unruhe, Applaus von der einen Seite, Verunsicherung und Mißbilligung von der anderen.
Der Baron, ein dicklicher, rotgesichtiger Herr mit bauschigem Schnurr- und Backenbart lockert erhitzt seine Krawatte, rückt sich den Kneifer auf seiner Nase zurecht. Seine Hände zittern vor Erregung. Mit lauter Stimme setzt er sich gegen die Einwände der anderen durch: »Doch anstatt dankbar zu sein, vergilt man uns unseren Einsatz mit offenen Aggressionen und Drohgebärden. Und das ist erst der Anfang, verlassen Sie sich darauf! Wir sollten unserem deutschen Vaterland den Rücken stärken und den Russen klarmachen, daß sie sich mit diesem Gegner übernommen haben.« Applaus und mühsam gezähmte, abwartende Empörung im Raum.
Heinrich Bockelmann nimmt einen Schluck Portwein, der weder beruhigt noch die Gedanken klärt. In ihm herrscht ein Gefühl von nebulöser Unwirklichkeit und fast schmerzlich durchdringender Realität im gleichen Augenblick. Das surreale Empfinden, als
sitze er mit achtzig Männern in einem von der Welt vergessenen Raum und diskutiere über Wirklichkeiten, die es längst nicht mehr gibt, als seien sie die letzten Vertreter einer untergegangenen Welt und hätten es nur noch nicht gemerkt. Er verscheucht das Gefühl, winkt einem der Diener, bittet um ein Glas Wasser, ordnet seine Notizen.
Bernhard Junker, Leiter der Petersburger Filiale der Junker-Bank und Vorsitzender der Diskussion versucht, die Stimmung wieder etwas zu beruhigen, doch Baron von Taube setzt sich mit all seiner geballten Wut auf die gegenwärtige Lage wieder durch und reißt das Wort an sich.
»Wir dürfen uns dieser Willkür nicht fügen! Man braucht uns hier! Und selbst im äußersten Fall: Die deutsche Armee ist mehr als gerüstet. Der Zar wird es nicht wagen, noch weiterzugehen. Das Attentat von Sarajewo liegt mehr als einen Monat zurück. Wenn’s wirklich ganz ernst wird, hätte es schon längst passieren müssen. Bis jetzt ist noch nichts geschehen. Machtgeplänkel, sonst nichts. Man plustert sich künstlich auf, doch noch weiter kann man nicht gehen. Der Zar hat genug eigene Probleme. Nicht einmal im eigenen Land ist er stark genug, um es sich leisten zu können, es noch weiterzutreiben. Er weiß genau, daß er bei diesem Spiel nur verlieren kann. Wir werden die Gewinner sein, so oder so!« Einige Anwesende applaudieren, andere entrüsten sich mit wachsendem Zorn.
Robert Lehmann, künftiger Erbe eines großen landwirtschaftlichen Mustergutes in Nemtschinowka mit Pferdezucht, eigener Orangerie, Schnapsbrennerei, Tennisplätzen, einem Wasserturm und Badesee springt auf, ruft seinen Protest unaufgefordert in den Raum. Bernhard Junker klopft mit seiner Pfeife auf den Tisch. »Beruhigen Sie sich, meine Herren! Ich bitte Sie! Jeder hier im Raum ist gereizt, bedenken Sie das!« Dann an Robert Lehmann gewandt: »Bitte, vertreten Sie Ihren Standpunkt.« Und energisch: »Ruhe!«
Er klopft erneut auf den Tisch.
Baron von Taube setzt sich mit abwartender Miene, säubert seinen Zwicker, wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
Robert Lehmann echauffiert sich: »Sie fragen, was das Land
ohne uns wäre? Ich aber frage: Was wären wir ohne
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