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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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bewacht von zwei an das Führerhäuschen gelehnt stehenden Polizisten, die Gewehre im Anschlag. Es werden weitere Gefangene herangeführt. »Aufsteigen«, herrscht man Heinrich an und hilft ihm unsanft, die schmutzige und übelriechende Ladefläche zu erklimmen. Vermutlich hatte man darauf vorher Schweine transportiert oder anderes Vieh.
    »Hinsetzen und Hände auf den Kopf!« Heinrich gehorcht. Seine Wahrnehmung ist grell und deutlich. Trotzdem ist ihm, als wäre er nicht wirklich dabei. Er fühlt eine merkwürdige, unbegreifliche Distanz zu den Ereignissen, die den Rahmen all seiner bisherigen Erfahrungen sprengen. Distanz auch zu sich selbst. Als wäre er plötzlich in einer anderen, fremden, vollkommen unbegreiflichen Welt.
    Immer dichter drängen sich die Gefangenen, dann wird die Ladeklappe geschlossen, und der Wagen setzt sich in Bewegung.
    Heinrich wundert sich darüber, daß er nicht einmal Angst hat. Er beobachtet sich wie von außen. Indirekte Gefühle. Deutlicher spürt er die plötzliche Kälte, die ihn erstarren läßt. Wetterleuchten am Horizont. Kalter Gewitterwind. Böen, die Zeitungspapier durch die Straßen wehen, kleine Äste und Müll. Erste Regentropfen, die die dünne Kleidung sofort klamm werden lassen. Heinrich
würde gern den Mantel fester um sich ziehen, doch die Gewehre lauern auf jede Bewegung.
    In holpriger Fahrt geht es durch das nächtliche, fast menschenleere Moskau. Gespenstische Ruhe. Nichts ist mehr so, wie er es vor noch nicht einmal zwei Tagen zurückgelassen hat. Die Straßen sind die gleichen. Er kennt ihre Namen, jedes Haus, jeden hervorstehenden Pflasterstein, jeden abgeplatzten Buchstaben auf den Schildern der Läden. Sein Leben hatte sich hier ereignet, in diesen Straßen, diesen Häusern, dieser fast unwirklich-durchsichtigen Moskauer Luft. Doch wo noch vor ein paar Tagen hektische Geschäftigkeit herrschte oder der stille Charme der Teegesellschaften und Modehäuser, hat nun bereits das Chaos der neuen Ereignisse Einzug gehalten und den Straßen seinen Stempel aufgedrückt, seine Fratze der Gewalt. Geschlossene Fensterläden, wohin man blickt. Eingeschlagene Schaufensterscheiben. Glitzernde Glassplitter im Scheinwerferlicht des Lastwagens. Waren liegen auf den Straßen verteilt. Vor dem Musikgeschäft von Julius Hermann Zimmermann ein zerschmetterter Flügel, offenbar aus dem eingeschlagenen Fenster im zweiten Stock auf die Straße geworfen. Zerstörte Musikinstrumente, eine Geige mit eingetretenem Corpus. Eine demolierte Gitarre, sogar ein zerbrochenes Fagott. Sinnlose Wut des Pöbels, die sich an Symbolen der Kultur entlud, von der man ausgeschlossen war. Vor dem Schuhhaus Weiss ein Rest von geplünderten Schuhen, vor Knebels Buchladen zerfetzte Bücher.
    Zwei betrunkene Gestalten wühlen im Haufen aus Papier, weichen wie Schatten in eine Nebengasse zurück, als die Lichter des Wagens sich nähern, Literatur als Brennmaterial an sich gerafft. Bizarre Vorgänge, die Heinrich nur betrachten, nicht verarbeiten kann. Orientierungslosigkeit in einer Welt jenseits gefestigter Ordnungen, in denen er gewöhnt war, sich zu bewegen. Keine Ahnung mehr über das Erwartbare menschlichen Verhaltens. Hilfloses Treiben in einem grotesken Strom der Anarchie.
    Beißender Rauch wird in die Gesichter der Gefangenen getrieben. Mitten auf der Straße steht ein ausgebrannter, noch qualmender Wagen. Offenbar hatte man die Insassen fortgejagt, die Scheiben zertrümmert, den Wagen in Brand gesteckt. Es kann noch nicht lange her sein, doch es ist niemand mehr zu sehen.
    Klirrendes Glas, Gejohle aus einer Nebenstraße, »Nieder mit
den verfluchten Deutschen, Tod den Saujuden, es lebe der Zar«, das im Lärm des Lastwagens verstummt. Nirgends Polizei. Man läßt den Volkszorn gewähren.
    Noch keine Vorstellung davon, wohin die Fahrt gehen soll. Man kommt an der Bank vorbei. Sie ist unversehrt. Durch ihre Gitter und Fensterläden hatte der Volkszorn wenig Chance.
    »Gerade hinsetzen!« Die bellende Stimme eines der Polizisten läßt Heinrich Bockelmann zusammenfahren. Er war gemeint. Er war in den letzten Minuten in sich zusammengesunken. Der Blick des Mannes trifft ihn kalt und hart. Das Gewehr ist fest auf ihn gerichtet. Die anderen Gefangenen sehen ihn mit leerem Blick an.
    Heinrich fragt sich, wohin man sie bringen wird, welchem Zweck diese Verhaftung dient. Vielleicht würde man sie ja nur außer Landes schaffen, hatte einen Sammeltransport organisiert, für die Deutschen und ihre Familien.

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