Der Mann mit dem Fagott
Zarenhymne aus Hunderttausend Kehlen, ein sich schnell drehender Globus, dessen Grenzen verwischen, Bernhard Junkers Stimme: »Wir haben Krieg.« Immer und immer wieder. »Wir haben Krieg …« - »Kalinka, Kalinka, Kalinka moja …« - »Krieg …«
In der Butyrka
»Aufstehen!« Ein gebellter Befehl. Heinrich richtet sich auf, hat Mühe, sich zu orientieren, zu begreifen, wo er sich befindet. »Fertigmachen! In fünf Minuten draußen antreten!«
Heinrich blickt auf seine Uhr. Fünf Uhr dreißig. Wenige Stunden unruhigen Schlafes.
»Was haben die nur mit uns vor?« Jeden der Männer beschäftigt in diesen Stunden die gleiche Frage.
»Ob man uns als Geiseln gegen Deutschland hält?«
»Vielleicht wollen sie Geld? Vielleicht können wir uns freikaufen?«
»Mir ist alles recht, wenn sie uns nur nicht in die Butyrka bringen.
« Johann Kirchner spricht aus, was die meisten von ihnen denken. Der Ruf der Butyrka, des berüchtigtsten Moskauer Gefängnisses, reicht bis weit über die Grenzen der Stadt. Fensterlose Zellen, von Wasser geflutete Kerker unter der Erde, Ratten, Krankheiten, grausame Verhörmethoden, ein Ort des Elends, die Hölle auf Erden.
»So weit wird es ja wohl nicht kommen! So können sie bei allem Kriegsrecht nicht mit uns umgehen!«
Man tritt aus der Tür der Baracke ins grelle Sonnenlicht des Appellplatzes. Essensausgabe. Eine dünne Brühe, die man weder als Tee noch als Kaffee erkennen kann und ein Stück trockenes Brot für jeden. Heinrich ißt es, ohne darüber nachzudenken.
Antreten zum Appell. Der Reihe nach vortreten, Ausweise zeigen. Wächter führen Listen. Nach undurchschaubaren Kriterien werden die Männer in verschiedene Gruppen aufgeteilt, auf verschiedene Seiten des Platzes geschickt. Heinrich fragt sich, ob er einen Geldschein in den Ausweis legen soll, doch es erscheint ihm zu gefährlich.
»Name?«
»Bockelmann.«
»Vorname?«
»Heinrich.«
Ein ratloser, fragender Blick.
»In Rußland falsch übersetzt als Andrej.«
Der Soldat beugt sich wieder über seine Liste.
»Vatersname?«
»Andrejewitsch.«
»Nationalität?«
Heinrichs Zunge stockt. Es muß dem Russen wie eine Provokation erscheinen, wenn er es ausspricht. Vielleicht ist es sein Todesurteil. Noch nie hat Heinrich so sehr mit seiner Nationalität gerungen wie in diesem Moment, noch nie so sehr mit sich gekämpft. Er schämt sich für seine Feigheit. In diesen Tagen klingt es wie ein Schuldbekenntnis, Deutscher zu sein. Er möchte es nicht flüstern, seine Heimat nicht in seiner Angst verraten, es aber auch nicht hinausschreien wie eine Kriegserklärung. Leugnen kann er es ohnehin nicht. Er versucht, es ruhig zu sagen, so emotionslos wie möglich, dem Wärter dabei in die Augen zu schauen. »Ich bin Deutscher.«
Der Wärter kümmert sich nicht weiter darum. Er hat es an diesem Tag bereits Dutzende Male gehört.
»Haben Sie um russische Untertanenschaft angesucht?« fragt er mit gelangweilter Routine.
Heinrich wird in diesem Augenblick bewußt, daß er zu einer Lüge greifen muß. »Ja, aber durch die Ereignisse der letzten Tage scheint mein Ansuchen nicht weitergeleitet worden zu sein.«
»Das wird sich herausstellen«, die kalte Antwort des Wärters. Er reicht Heinrich seine Papiere zurück, zeigt wortlos in die Richtung, in die er abzutreten hat. Heinrich gehorcht und nimmt Aufstellung bei den anderen Deutschen, die man auf die rechte Seite des Platzes geschickt hat. Einen Franzosen, der nach Heinrich an der Reihe ist, weist man zur anderen Gruppe. Er wird gleich viel freundlicher behandelt. Bündnispartner. Das ist es, was in diesen Tagen zählt.
In erstaunlich kurzer Zeit haben sich zwei Gruppen gebildet. Heinrich bekommt noch mit, wie die Männer auf der anderen Seite weggeschickt und nach Hause entlassen werden. Für die Männer auf seiner Seite des Platzes bestehen andere Pläne. In größeren Gruppen wird man wieder auf Lastwagen verfrachtet und mit unbekanntem Ziel befördert.
Schon die Route, die der Wagen nimmt, die Straße nach Dubna, in nordwestlicher Richtung, läßt Stimmen laut werden, die die größte Befürchtung aussprechen. In einem einzigen Wort: »Butyrka.« Und tatsächlich hält man vor der ausladend-bedrohlichen, schon von außen düsteren Strafanstalt.
Wieder müssen alle aussteigen, wer zögert, wird mit Gewehrstößen angetrieben. Irgendwo hinter Heinrich Geschrei, ein Schuß. Er wehrt sich gegen den Reflex, sich umzudrehen, nachzusehen, was passiert ist, hat Angst, in Panik zu
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