Der Mann mit dem Fagott
Vielleicht wartete seine Familie schon dort, wohin man dabei war, ihn zu bringen. Ein Hoffnungsschimmer. Nur noch weg von hier. Daß dies nun sein drängendster Wunsch sein würde, hatte er noch vor ein paar Tagen nicht einmal geahnt.
Aber warum hatte ihn niemand informiert? Vielleicht war der schwarze Mann ja gekommen, um ihm Bescheid zu geben, und hatte es dann, angesichts der zahllosen Polizisten, doch nicht gewagt? Vielleicht erklärte dies sein merkwürdiges Verhalten am Bahnsteig? Aber dazu war Kropotkin zu hochmütig aufgetreten, nicht vorsichtig genug. Ganz im Gegenteil: So arrogant-selbstbewußt hatte Heinrich ihn noch nie zuvor gesehen.
Immerhin: Wenn sein Telegramm aus Petersburg angekommen war, dann wußte der »schwarze Mann«, mit welchem Zug er eintreffen würde. Nein, Heinrich will das alles nicht glauben. Er schämt sich für seinen Verdacht, seinen Argwohn. Die neue Zeit war schon dabei, ihn verrückt zu machen, ihm das Vertrauen an allem und jedem zu rauben. Bestimmt gab es für das Verhalten des schwarzen Mannes eine vernünftige, gute Erklärung. Heinrich war einfach übermüdet, durcheinander, aufgewühlt, verstört. So sehr konnte er sich in einem Menschen einfach nicht geirrt haben. Und wenn doch? Gab es vielleicht schon eine Art Kopfprämie auf die reichen Deutschen?
Eine Windböe reißt einem der Männer den Hut vom Kopf.
Heinrich und zwei andere Männer wollen im Reflex danach greifen, doch ein Warnschuß in die Luft, der gebrüllte Befehl »Sitzenbleiben!« läßt sie innehalten.
»Primitiver Pöbel«, hört man eine Stimme. Heinrich erkennt überrascht den Verleger Kirchner, der gestern auch auf der Petersburger Krisensitzung gewesen war.
»Ruhe!« herrscht der Wärter ihn sogleich an. »Sie sprechen nur, wenn Sie gefragt werden, und dann auf Russisch!«
Heinrich fällt es schwer, nichts zu erwidern. Er denkt an seinen Ältesten Erwin und dessen Probleme mit Autorität. In diesen Minuten kann er ihn besser verstehen denn je. Guter, starker Junge, denkt er liebevoll und schließt die anderen vier Söhne in seine Gedanken und Sorgen mit ein. Wenn das hier nur nicht das Ende ist …
Der Wagen hält an. Ein trostloses Gelände liegt vor ihnen. Die Ladeklappe wird geöffnet.
»Aussteigen! Einer nach dem anderen und die Hände schön hinter den Kopf! Wird’s bald!« Einer nach dem anderen klettert ungelenk von der Ladefläche. Die Bewegungen schmerzen nach dem Sitzen in der unnatürlichen Haltung. Sie werden durch ein eisernes Tor geführt.
»Das ist die Krutizkij-Kaserne«, raunt Kirchner Heinrich zu. »Hier müssen sich alle Deutschen melden.«
Schwaches Licht. Soldaten auf Nachtwache. Die Polizisten klären irgendetwas mit einem Offizier, dann wird man zu einer dunklen Baracke gebracht, die bereits jetzt überfüllt ist von Männern. Dicht an dicht liegt man auf nacktem Stroh. Manch einer war so klug gewesen, sich eine Decke mitzunehmen. Das Privileg derer, die man zu Hause verhaftet hatte. Heinrich gehörte nicht dazu. »Hinlegen und Ruhe!« ertönt der Befehl.
»Was geschieht nun mit uns?« will einer der Männer von den Soldaten wissen.
»Das werdet ihr früh genug erfahren!« Die Tür fällt ins Schloß, und damit erlischt auch der matte Lichtschein von draußen, der die Orientierung ermöglicht hatte. Chaos. Vorsichtig tastet man sich durch den Raum auf der Suche nach ein wenig Platz zum Liegen. Wenigstens ist es hier drinnen warm. Heinrich ist für ein paar Minuten die stickige, abgestandene, übelriechende Luft im Inneren der Baracke lieber als die Gewitterkälte draußen. Irgendwie würde
er diese Nacht überstehen. Und morgen würde alles bestimmt ganz anders aussehen. Auch die anderen verstummen langsam. Die Erschöpfung siegt.
Wenn er nur wüßte, daß es seiner Familie gutging … Er hätte sie schon früher außer Landes schaffen müssen. Selbstvorwürfe. Er mußte das Versäumte so schnell wie möglich nachholen. Nur wohin? Zurück nach Deutschland? Von einem Kriegsland in ein anderes? Das schien ihm nicht ratsam. Man mußte eine andere Möglichkeit finden.
Unzählige Gedanken in seinem Kopf. Bilder, Töne, Gerüche. Das Rattern des Zuges, Lichtblitze, Schüsse, »Kalinka, Kalinka, Kalinka moja«, das brennende Auto, der Petersburger Salon, der mild-salzige Duft frischer Austern im Metropol, der zerschmetterte Flügel am Kusnezkij Most, der »Mann mit dem Fagott«, der im Nebel entschwindet, die »Schwanensee-Ouvertüre«, still und flehend und majestätisch, die
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