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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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verfallen. Wahrscheinlich wollte einer der Männer wider jede Vernunft fliehen, wurde angeschossen. Er scheint zu leben. Man hört Schmerzensschreie. Eine Trage wird herbeigeschafft. Schon muß Heinrich mit seiner Gruppe weitergehen.
    Eine halb verfallene Treppe, daneben ein heruntergekommener Bretterverschlag als Sichtschutz. Ein kleiner, grün bewachsener Durchgang. Das letzte Sonnenlicht. Ein schmaler Eingang. Endlose, überfüllte, dunkle Korridore. Geruch nach feuchten, alten,
klammen Steinwänden. Angstschweiß. Warten auf ein ungewisses Schicksal. Dumpfe Klagerufe, irgendwo aus den Tiefen des Kerkers. Einzelne Gefangene in dicken, zerschlissenen, groben Wolljacken und -hosen werden an ihm vorbeigeführt. Ausgemergelte Gestalten mit dunklen, tiefen Augenringen und gesenktem Blick.
    Heinrich spürt mit einemmal, daß es ernst ist, daß Vertrauen auf menschliche Werte und einen würdigen Umgang verfehlt ist und naiv. Es geht um alles. Zeit, es zu begreifen. Alle Hoffnungen zerschlagen sich in der düsteren Atmosphäre der Butyrka.
    Es ist nicht mehr viel Zeit. Bewaffnete Soldaten sorgen für Ordnung, lassen einen Neuzugang nach dem anderen an den kleinen Tisch treten, an dem ein Beamter in Zivil mit einer dunklen, abgeschabten Kladde die Gefangenen katalogisiert und offenbar über ihr Schicksal entscheidet.
    Irgendwie müßte es doch möglich sein, die langjährigen Geschäftsbeziehungen und Freundschaften zu den Einflußreichen der Stadt in dieser Stunde der Not zu nutzen. Bald wird er an der Reihe sein. Es muß ihm schnell etwas einfallen. Der neue Generalgouverneur von Moskau, General-Adjutant Fürst Jussupow, war früher immer fast überschwenglich freundlich gewesen, hatte Heinrich beinahe hofiert. Doch seit es nicht mehr zum guten Ton gehörte, mit den einflußreichen ausländischen Wirtschaftsführern gesellschaftlich zu verkehren, war seine Maske gefallen, und er hatte ein hartes, deutschenfeindliches Gesicht gezeigt; er schien ein fast sadistisches Vergnügen daran zu finden, das Volk gegen die Deutschen und gegen die Juden aufzuhetzen. Jussupow würde keinen Finger mehr für ihn krümmen. Ganz im Gegenteil. Innenminister Maklakow war ein wenig unberechenbar. Aber der ehemaligen Gouverneur von Moskau und neue stellvertretenden Innenminister Wladimir Fjodorowitsch Dzhunkowskij schien ein aufrichtiger, integrer Mann zu sein. Ja, Dzhunkowskij - wenn es nur möglich wäre, irgendwie mit ihm zu sprechen. Heinrich kannte ihn gut, hatte immer wieder geschäftlich und privat mit ihm zu tun gehabt. Bestimmt würde sich mit dessen Hilfe ein Ausweg für Heinrich und seine Familie finden lassen. Er mußte es wenigstens versuchen. Es war seine einzige Chance. Jedenfalls die einzige, die ihm in diesen Minuten einfiel.
    Der Versuch mit dem Bargeld, den er schon auf dem Appellplatz
in Erwägung gezogen hatte, war zu direkt. Aber - sein Atem stockt - die Uhr … Die massiv goldene Taschenuhr, die sein Vater ihm bei Antritt seiner Reise nach Rußland geschenkt, die ihn seither an jedem Tag seines Lebens begleitet hatte. Sie war mindestens 300 Rubel wert, eher mehr. Das entsprach mehr als dem Jahresgehalt eines Gefängnisbeamten. Es konnte funktionieren. Es konnte sein Leben retten. Er mußte es riskieren. Völlig konnten die alten Strukturen sich noch nicht aufgelöst haben. Schnell ist ein Plan gefaßt. Der Herzschlag dröhnt in Heinrichs Ohren, als er an der Reihe ist, vorzutreten.
    »Name?«
    »Bockelmann.«
    Der Kommissar stockt. Er scheint diesen Namen bereits einmal gehört zu haben. Das wäre gut. Ein kleiner Moment der Irritation, dann fährt er fort: »Vorname?«
    »Heinrich.«
    Der Kommissar sieht zum ersten Mal auf, fragt mit leiser Verunsicherung und zur Schau gestellter Härte in seiner Stimme: »Sind Sie der Bankier, der Leiter der Junker-Bank?«
    Heinrich ahnt seine Chance. Jetzt oder nie, denkt er sich und antwortet mit fester Stimme, so selbstbewußt wie möglich: »Genau der bin ich. Und bei allem Respekt, ich glaube, das hier muß ein Irrtum sein. Ich denke, ich gehöre nicht hierher. Ich bin ein treuer Freund Rußlands und ein enger Vertrauter von Wladimir Fjodorowitsch Dzhunkowskij, dem stellvertretenden Innenminister dieses Landes, und auch von Generalmajor Ignatij Solotarew, dem Polizeichef dieser Stadt.«
    Heinrich hält inne.
    Ein undurchdringlicher, abwartender Blick des Kommissars, der ihm nicht ins Wort fällt. Eine kleine Chance. So ruhig wie möglich fährt Heinrich fort: »Bestimmt ist es

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