Der Mann mit dem Fagott
Etagen werden die schwächeren Gefangenen von den Biestern angefressen.« Otto Schweitzer, bis vor wenigen Tagen einer der führenden Kaufmänner in der Schokoladenfabrik von Julius Heuss, hat unzählige Schauergeschichten, die im Haus kursieren, auf Lager.
Heinrich lehnt sich gegen die Wand. Ein Anflug von Übelkeit. Beginnende Schwäche. Krämpfe. Man sollte das übelriechende Wasser hier nicht trinken, die dünne, schlechte Kohlsuppe nicht essen, doch man hat keine Wahl. Der schmutzige Blechkrug mit der Tagesration Wasser für alle ist bereits fast leer. Die Hitze trocknet die Kehlen aus. Beinahe beginnt man, um die gerechte Aufteilung des Wassers zu streiten. Heinrich tritt eine Kakerlake tot und hätte dabei beinahe den stinkenden Blecheimer umgestoßen, der als Abort dient und einmal täglich von einem der Gefangenen geleert werden muß. Immer abwechselnd.
Heinrich überläßt Michail Karlowitsch Baron von Keller den letzten Schluck Wasser. Kampf mit sich selbst um den letzten Rest an Menschenwürde und Großzügigkeit.
Es wird wenig gesprochen. Am Tag seiner Ankunft hatte jeder der vier Gefangenen seine Geschichte erzählt. Andreas Schiller und Otto Schweitzer waren wie Heinrich Deutsche, Geschäftsleute, deren Vergehen lediglich in ihrer Nationalität bestanden. Verhaftet, wie Heinrich, völlig unerwartet von der Straße weg. Michail Karlowitsch Baron von Keller war Russe, ein weltoffener junger Mann im auswärtigen Dienst, dem marxistische Umtriebe und staatsfeindliche Spionage gegen Rußland vorgeworfen wurden, nur weil er sich im Ausland mit Andersdenkenden getroffen und Verständnis für deren Anliegen gezeigt hatte. Er war von ihnen allen in dieser Zeit der neuen Zarentreue wohl in der aussichtslosesten Lage, doch wer konnte das schon so genau wissen.
Am ersten Tag hatte man sich gegenseitig verrückt gemacht mit der in tausenderlei Variationen gestellten Frage »Warum?«, auf die es keine Antwort gab, hatte Kräfte verschlissen mit innerem Aufbegehren und äußeren Kämpfen, die nicht zu gewinnen waren. Dann hatte Heinrich vorgeschlagen, den Kampf gegen das Elend mit der Schönheit menschlicher Kultur aufzunehmen, die Unwürdigkeit des Kerkers zu ignorieren und von der Freiheit des Geistes
zu zehren, Konversation zu betreiben als wäre man in einem der Salons, Erinnerungen an Literatur und Musik wiederaufleben zu lassen, die man in seinen Gedanken und Gefühlen trug, an Philosophie, die Fragen aufwarf, welche über die Erbärmlichkeit ihrer momentanen Existenz hinauswiesen. Es war einige Stunden lang gutgegangen, doch dann war der Moment gekommen, in dem einer der Gefangenen den Eimer hatte benutzen müssen, und alle Würde und Weihe hatte sich aufgelöst im schmutzigen, stinkenden Elend der Realität.
Seither hatte jeder sich mehr und mehr in seine eigenen Gedanken zurückgezogen. Nur manchmal seufzte einer: »Ich halte das nicht mehr aus! Warum lassen die mich nicht gehen! Ich habe doch nichts getan!«
Manchmal begann einer zu schreien und zu treten, sich die Fäuste an den Wänden oder der Tür blutig zu schlagen, dann war alle Widerstandskraft der anderen gefragt, um ihn wieder zu beruhigen und ihm einen Funken Hoffnung zurückzugeben.
Heinrich fühlt deutlich und beängstigend, wie nahe er selbst in diesen Stunden an jenem Abgrund steht, spürt die Gefahr, daß Panik und Beklemmung siegen.
Der fünfte Tag ohne Nachricht, ohne besondere Ereignisse, ohne Hoffnung. Die Angst zehrt an seiner Seele. Nicht die Angst vor einer ungewissen Zukunft. Zukunft bedeutete Hoffnung, Veränderung, Gefahren, aber auch Chancen. Es ist die Angst vor einer unendlichen Gegenwart, die ihn zu erfassen und zu lähmen beginnt, die Angst vor der Ereignislosigkeit in diesem würde- und zeitlosen Einerlei, das nicht einmal mehr vom Bimmeln und Surren und Klingen seiner Uhr unterbrochen wurde. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sie gegen seine Freiheit zu setzen.
Heinrich beginnt zu zweifeln. Es war ein zu schneller Sieg gewesen. Der Kommissar hatte sich den Verlockungen, die Heinrich ihm bot, viel zu schnell und viel zu rückhaltlos ergeben. Vielleicht war es sein Trick gewesen, eine besonders heimtückische Form der Grausamkeit, sich den Bestechungsversuchen der Gefangenen in fast unterwürfiger Dienstfertigkeit zu beugen - und sie danach im Stich zu lassen, ihnen auf diese Weise die eigene Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht besonders schmerzlich vor Augen zu führen.
Heinrich faßt sich an den Kopf. Bestimmt war
Weitere Kostenlose Bücher