Der Mann mit dem Fagott
Schüsse.
Am Bahnsteig überall Soldaten, doch sie scheinen alle überbeschäftigt, überfordert und desorganisiert. Anna weist ihr Schreiben von Minister Dzhunkowskij vor. Ein flüchtiger Blick, ein Suchen auf seiner Liste. »Bockelmann? Waggon 5.« Dann werden sie alle zum Zug gelassen. Schnell hat man den Waggon gefunden.
Heinrich hilft den Kindern über die hohen Stufen und bringt sie ins Abteil, setzt sich noch - »nur für einen Augenblick«.
Vorbereitung für einen Abschied auf unbestimmte Zeit. Sprachlosigkeit. Es gäbe noch so vieles zu sagen. Nichts scheint der Schwere des Augenblicks angemessen.
Heinrich sieht auf die Uhr. Noch ein paar Minuten. Gleich am Tag nach seiner Entlassung hatte er sie ausgelöst. Der Kommissar hatte ihm gewünscht, daß sie ihm weiterhin Glück bringen möge und sich über das Glück der 400 Rubel gefreut, das sie ihm selbst gebracht hatte. Man hatte den Handel vollzogen und war seiner Wege gegangen, jeder auf seine Weise dankbar. Heinrich hatte nicht einmal heute, in der einfachen Kleidung, auf die Uhr verzichten können. Als wäre er ohne sie verloren.
»Achtung: Noch fünfzehn Minuten bis zur Abfahrt!« Eine Stimme von draußen.
Es wäre der Moment des Abschiednehmens. Heinrich und Anna sehen sich vielsagend und gespannt an. Keiner wagt es zuerst auszusprechen. Es ist eine zu zerbrechliche Hoffnung, ein zu gewagter Gedanke. Aber was, wenn er es tatsächlich einfach tut? Es scheinen keine Kontrollen mehr stattzufinden. Heinrich ist im Zug. Weiter vorn macht man sich schon daran, Türen zu schließen, Waggons zu verplomben.
Gert bettelt: »P… Papa, ichw…will, daß dum…mit uns k … kommst.«
Er stottert, wie immer, wenn er nervös ist, unsicher, aufgeregt, und das kommt bei diesem Jungen sehr oft vor. Mit stockendem Atem sehen Heinrich und Anna sich an, für Augenblicke wie elektrisiert. Heinrich hält den Atem an, als Anna flüstert: »Und wenn du wirklich einfach sitzenbleibst? Ich meine … was hält dich noch in Moskau? Die paar Sachen, die du zu Hause zurückgelassen hast? In der Bank ist auch nichts mehr für dich zu tun. Du bist immerhin hier …«
Sie sieht ihn flehend an.
Heinrich kämpft mit seinem Begriff von Ehre. Und mit seinem Versprechen, zu bleiben, das er dem stellvertretenden Innenminister Dzhunkowskij gegeben hat. Was, wenn er die Situation verkennt, wenn noch einmal kontrolliert, er des Fluchtversuchs überführt wird? Das könnte tödlich für ihn sein. Andererseits: Hier hat doch niemand mehr den Überblick. Es könnte gehen. Es wäre dumm, es nicht zu versuchen. Einfach sitzen bleiben, mehr muß er nicht tun …
Er entschließt sich, nickt fast unmerklich. Erleichterung und Furcht bei Anna. Nur noch ein paar Minuten. Sie werden alles entscheiden.
Draußen bietet ein Limonadenverkäufer seine Waren feil. »Kühle Getränke!« ruft er durch die noch offenen Türen, bimmelt mit seinem kleinen Glöckchen. Die Fenster der Sonderwaggons müssen in den Bahnhöfen geschlossen bleiben.
»P… Papa, ichh…habD…Durst!« quengelt Gert. »Ich auch«, pflichten Werner und Rudi bei. Tatsächlich hat man nichts zu trinken eingepackt. Heinrich nickt, drückt Erwin mit ernstem Blick einen Geldschein in die Hand. »Mach schnell und unauffällig«, schickt er ihn los.
Der Verkäufer ist schon einen Waggon weitergezogen. Erwin läuft auf ihn zu. Heinrich beobachtet seinen Ältesten durch das Fenster. Der Junge nimmt Getränkeflaschen entgegen, reicht dem Verkäufer den Schein. Kopfschütteln, Gezeter, Hektik. Erwin sucht ratlos den Blick seines Vaters, zuckt hilfesuchend mit den Schultern. Heinrich blickt sich um. Keine Soldaten in unmittelbarer Nähe, doch wenn das Gezeter des Verkäufers so weiterging,
würde man Aufsehen erregen. Kurzentschlossen erhebt er sich. »Ich muß dem Jungen helfen, bin gleich wieder da.«
Und steigt schon aus, viel zu schnell, um sich von Anna oder Lehrer Pfister zurückhalten zu lassen.
Mit wenigen Schritten ist er beim Limonadenverkäufer. »Gibt es ein Problem?«
Erwin aufgeregt: »Der Mann sagt, er hat kein Wechselgeld!«
Verzweifelt und beschämt sieht der Junge seinen Vater an. Nie hätte er sich vorstellen können, an solch einer kleinen und doch wichtigen Aufgabe zu scheitern.
Sein Vater lächelt. »Geh du mit den Getränken schon einmal vor. Ich regle das.«
Er schickt seinen Ältesten weg, bezahlt. Der Verkäufer zieht weiter.
Alles scheint ruhig, doch die Männer, die die Waggons verplomben, werden gleich
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