Der Mann mit dem Fagott
der Beleuchtung entlang der Strecke. Die Butyrka war harmlos gewesen im Vergleich zu diesem Zug.
Hauptsächlich Deutsche im Waggon. Einige kannten sich, und man hatte sich dennoch nicht viel zu sagen.
Ab und zu Versuche, sich abzulenken. Mit Geschichten aus Moskau, Einschätzungen der Kriegslage, Vermutungen, wohin man sie bringen würde und Gedanken an die in Moskau gebliebenen oder schon vor längerem ausgereisten Familien. »Hoffentlich haben sie überlebt! Hoffentlich sind sie bis Schweden durchgekommen! Hoffentlich werden wir das hier überleben!«
So schnell änderten sich Wunschträume. Die Zeiten, in denen Heinrichs Hoffnungen für den nächsten Tag vom Gang der Börse
genährt wurden, die kleinen Freuden seines Lebens in eleganter Kleidung, Theaterbesuchen und Wochenendausflügen mit der Familie auf seine Datscha in Nemtschinowka bestanden, schienen unendlich weit zurückzuliegen und waren doch erst wenige Wochen her. Heinrich schämte sich für die Oberflächlichkeit, mit der er sein Leben oft wie selbstverständlich hatte verstreichen lassen, ohne es in all seiner Kostbarkeit mit all seinen Sinnen und Gedanken aufzunehmen und zu genießen.
»Und? Was kann man sehen?«
Heinrich versucht angestrengt, durch die schmale Ritze nach draußen zu sehen. »Nichts. Wir halten. Es ist hell draußen.«
»Sind da Häuser? Leute? Kannst du irgendetwas erkennen?«
Heinrich schüttelt den Kopf.
Wohin mochte diese endlose, unmenschliche Fahrt wohl gehen? Die Frage quälte alle Gefangenen in Heinrichs Waggon gleichermaßen. »Sibirien« war das Schreckgespenst, die Bedrohung, die den Mut am nachhaltigsten niederdrückte, das Wort, das man nicht einmal auszusprechen wagte. Zuviel hatte man von den berüchtigten Lagern dort gehört. Kaum jemand soll je von der Verbannung nach Sibirien zurückgekehrt sein. Und wenn doch, so hatte sie ihn aufs grausamste gezeichnet. Mit diesen beklemmenden Bildern in den Köpfen war man seit Tagen unterwegs, und manch einer fragte sich, ob es nicht besser wäre, gleich hier zu sterben, im Güterwagen, sich die weitere Fahrt und das, was einen am Ziel erwartete, zu ersparen.
Nur einer hatte für sich eine Entscheidung getroffen. Nicolai Kramer. Er hatte einen kleinen Laden in der Twerskaja gehabt. Vandalen hatten ihn geplündert. Er hatte aufgeräumt, sich den Schaden besehen, die Polizei des Zaren gerufen, die ihn gleich mitnahm. Schließlich war er Deutscher, und alle Deutschen waren eine Gefahr. Während der langen Zugfahrt war er meistens ruhig gewesen. Er hatte nicht viel gesagt, wenig geklagt, war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen. Niemand konnte seinen Entschluß vorhersehen. Dann, plötzlich, bei einem Halt irgendwo in der endlosen Weite, war er aus dem Zug gesprungen und losgelaufen. Man hörte Schüsse. Nicht einmal einen Schrei. Dann Stille. Zwei andere Gefangene hatten aussteigen, ihn in einen Graben legen, mit Schaufeln voll Erde bedecken müssen.
»Er hat noch gelebt«, behauptete einer der beiden später. »Er hat noch geatmet!«
»Nein, das bildest du dir ein. Und selbst wenn … Er hat es so gewollt. Es war besser so für ihn.«
Dann wieder Schweigen.
Je länger man fuhr, desto beklemmender die Erfahrung der schier unendlichen Weite dieses Landes. Nur wohin es ging, das konnte niemand ermessen.
»Sibirien. Die bringen uns nach Sibirien …« Einer spricht es plötzlich aus.
Das laute Quietschen und Rasseln der Waggonschiebetür. Gleißendes Sonnenlicht nach der tagelangen Dunkelheit. Man ist geblendet. »Aussteigen! Wird’s bald! ›Bystro!‹ - Schnell!« Die scharfe Stimme eines Soldaten. Anscheinend ist man am Ziel angelangt. Erschöpfte Erleichterung. Vielen fehlt auch dafür die Kraft.
Man kämpft sich ins Freie. Nicht jeder der Gefangenen kann noch gehen, allein aussteigen. Manche fallen einfach so aus dem Zug, stürzen auf den Bahnsteig und bleiben dort liegen.
»Bereitmachen zum Abmarsch!« Die durchdringende Stimme eines Soldaten.
Mühsam entziffert man das verfallene Schild des kleinen Bahnhofs. »Wjatka« steht darauf zu lesen. Heinrich hat noch nie von diesem Ort gehört. Man sei wohl irgendwo an der sibirischen Grenze, heißt es. Ein alter, traditioneller Verbannungsort für die russische Intelligenzia. Wenigstens spricht man nicht von Arbeitslager. Ein Funken Hoffnung.
Wer noch gehen kann, nimmt Aufstellung in ungeordneten Marschreihen, die anderen stützen sich auf ihre Kameraden. Die schwächsten werden auf einen Leiterwagen
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