Der Mann mit dem Fagott
gelegt, der von zwei der kräftigsten Männer gezogen wird. Bewaffnete, zum Teil betrunkene Soldaten an allen Seiten. Man nimmt es zur Kenntnis, ohne sich zu wundern. Man hat gelernt, alles, was einem geschieht, als neue Normalität hinzunehmen, sein Verhalten danach auszurichten.
Wieder ein Sammelplatz. Wenigstens eine Gelegenheit, sich zu waschen: Eine einfache Baracke mit heruntergekommenen Waschbecken, bereitstehendem kaltem Wasser, mit dem man sich notdürftig säubern kann. Und wenigstens ein Plumpsklosett. Man gibt
ihnen zehn Minuten. Was für eine Wohltat nach der sechstägigen Fahrt, auch wenn die Läuse und Flöhe sich davon sicher nicht abschrecken lassen.
Vor der Baracke ein kahler, ungeschützter Platz, von allen Seiten gut einsehbar. Die schon vertraute Routine der Registrierung. Die Soldaten sind hart, unnahbar. Ein Deutscher, der wohl eine unangemessene Antwort gegeben hat, wird ins Gesicht geschlagen. Stets werden Gewehre im Anschlag gehalten. Die Normalität des Unbegreiflichen.
Einer der Soldaten ruft Namen auf. Wer genannt wird, hat vorzutreten. Heinrich kennt die Namen. Es sind die einflußreichsten Moskauer Kaufleute. Heinrich ahnt, daß jeden Moment sein eigener Name fallen wird.
»Bockelmann!« Wortlos tritt er vor, nimmt Aufstellung in einer Reihe von etwa einem Dutzend Deutschen, die mit gesenktem Kopf ihres Schicksals harren, den Blick auf die heruntergekommene Holzwand einer alten Baracke gerichtet.
Befehl zum Abtreten für die nicht aufgerufenen Männer des Transports. Plötzlich fast quälende Stille.
Vielleicht werden sie jetzt alle erschossen, denkt Heinrich und spürt seine besiegt geglaubte Angst grell und unbezwingbar in ihm hochsteigen und alle anderen Gefühle und Gedanken verdrängen. »Wenn ich jetzt sterbe, wird Erwin sich das nie in seinem ganzen Leben verzeihen«, ist der einzige beherrschende Gedanke neben der Angst. Und immer wieder im Geiste die verhängnisvollen Sekundenbruchteile, die er immer wieder auf’s neue durchlebt und durchleidet, Tag und Nacht, als könne er durch irgendetwas seinen Fehler rückgängig machen. Selbstanklage: »Warum bin ich nur ausgestiegen?«
Die schlimmste Fehlentscheidung seines Lebens. Vielleicht wird sie ihm den Tod bringen. Jetzt. In dieser Sekunde. Oder in der nächsten. An irgendeinem gottverlassenen Ort irgendwo an der sibirischen Grenze. Gleichzeitig Hoffnung: »Aber warum sollte man uns bis hierher ans Ende der Welt geschafft haben, nur um uns hier zu erschießen? Das ergibt keinen Sinn …«
Ein Augenblick vergeht. Dann noch einer und wieder einer. Nichts geschieht. Minuten, die Heinrich wie Jahre erscheinen. Zittern der Knie, das sich nicht unterdrücken läßt. Erwartung eines
Schusses, eines Wortes wenigstens, irgendeines Ereignisses. Rasender Herzschlag. Vielleicht der letzte.
Es öffnet sich eine Barackentür. Ein ehrfürchtiger Gruß der Soldaten dem Ranghöheren gegenüber, der sich nähert. Mächtige, ausladende Schulterklappen, eine saubere, überladen verzierte Uniform, die aber auch schon bessere Tage gesehen hat. Der Kommandant bleibt in etwas Abstand stehen, schreitet dann langsam die Reihe der Vorgetretenen ab, sieht jedem von ihnen eindringlich ins Gesicht, dann erhebt er seine Stimme mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck und gelassen-zynischem Tonfall:
»Meine Herren Gefangenen! Ich wollte Sie kennenlernen. Schon lange wollte ich mir ihre Gesichter ansehen, wollte sehen, wie sie aussehen, diese Reichen und Mächtigen, wenn sie Angst haben.« Er lacht. »Nun ist die Macht auf meiner Seite, aber vergessen wir eines nicht: Wir sitzen hier alle im selben Boot, das werden Sie bald spüren. Niemand von uns ist aus freien Stücken hier. Sie nicht, und ich auch nicht. Ich erfülle hier meine Pflicht, weil es Menschen wie Sie gibt, die unserem Land schaden und vor denen wir uns schützen müssen. Es ist auch für mich kein schönes Leben, und es wird ebensowenig für Sie ein schönes Leben sein.« Er macht eine Pause. »Aber wie gut es Ihnen hier gehen wird und vielleicht auch Ihr Überleben, wird davon abhängen, wie gut wir uns arrangieren werden!«
»Wie ich höre, ist auch ein berühmter Bankier aus Moskau unter Ihnen …« Er macht eine eindrucksvolle Pause, fährt dann mit einem Lächeln fort: »Also machen wir’s kurz: Wer von Ihnen ist denn nun der Reichste hier?«
Heinrich blickt sich ratlos um. Er kennt die anderen Geschäftsleute. Mit dem Bankier ist sicher er selbst gemeint. Aber muß er sich jetzt
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