Der Mann mit dem Fagott
einfach überschlagen …« Heinrich versucht, sich zu rechtfertigen.
Der Sekretär unterbricht ihn sogleich: »Das habe ich nicht gehört. Ist es nicht vielleicht so, daß Sie den Antrag abgeschickt haben, aber vermuten, er sei in den Wirren der letzten Tage verloren gegangen?«
Heinrich nickt. »Natürlich.«
Der Sekretär scheint zufrieden. »Minister Dzhunkowskij hat sich schon etwas Ähnliches gedacht. Er kennt Sie als einen ehrlichen und redlichen Freund des russischen Staates, dem es schon lange ein Wunsch und Anliegen war, russische Untertanenschaft anzunehmen.«
Der Sekretär sucht etwas in seiner Mappe. »Wie wir zu unserem großen Bedauern gestehen müssen, ist bei uns in den letzten Tagen einiges durcheinandergeraten. Sie wissen ja: neues Personal, Arbeitsüberlastung. Es ist wirklich ein Jammer.«
Heinrich nickt gespannt.
»Nachdem der Herr Minister Ihr Schreiben erhalten hat, ist er der Sache sogleich auf den Grund gegangen und hat festgestellt, daß Ihr Antrag bereits vor zehn Tagen bei uns eingegangen, aber aus Gründen, die sich jetzt nicht mehr rekonstruieren lassen, nicht weiter bearbeitet worden ist. Wir bedauern die Unannehmlichkeiten, die Ihnen daraus entstanden sind.« Er zwinkert Heinrich zu, legt ein zum Teil ausgefülltes Blatt auf den Tisch, weist auf das bereits eingesetzte, vierzehn Tage zurückliegende Datum. »Nur leider muß auch Ihnen beim Ausstellen des Formulars ein kleines Versehen passiert sein: Es fehlt noch Ihre Unterschrift. Darüber wollen wir aber kein weiteres Wort verlieren.«
Er reicht Heinrich einen Stift, der ohne nachzudenken seine Chance ergreift und seinen Namen unter das rettende Stück Papier setzt. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!«
Der Sekretär lächelt. »Keine Ursache. Minister Dzhunkowskij hofft, Ihre Sache nun schnell zu einem guten Ende bringen zu können. Wahrscheinlich sind Sie in einigen Tagen frei.«
»Bestellen Sie Wladimir Fjodorowitsch Dzhunkowskij meine besten Empfehlungen und meinen tiefsten Dank!«
Der Sekretär nickt. »Ach, beinahe hätte ich es vergessen.« Er
nimmt einen Beutel mit Wodka, Tabak und belegten Broten aus der Tasche. »Mit besten Grüßen von Minister Dzhunkowskij. Das werden Sie hier sicher gut gebrauchen können.«
Heinrich nimmt den Beutel dankbar an sich. Mühsam beherrscht er sich, sich nicht sogleich unter Mißachtung jeglicher Manieren über seinen Inhalt herzumachen.
Der Sekretär reicht ihm die Hand. »Ich wünsche Ihnen alles Gute. Bleiben Sie stark, es kann nicht mehr lange dauern.«
Heinrich nickt.
»Sie können noch eine Weile hierbleiben. Ich habe das für Sie arrangiert. Nehmen Sie sich Zeit.« Er weist auf den Beutel.
Heinrich lächelt dankbar, nimmt sich aber vor, auch etwas für seine Zellengenossen aufzubewahren.
Der Sekretär verläßt den Raum. Heinrich genießt die Ruhe, die frischere Luft, den Anblick eines Stückchens Wiese vor dem geschlossenen und vergitterten Fenster.
Mit der neuen Hoffnung sind auch seine Lebensgeister wieder erwacht. Das Schicksal hatte ihn nur gewarnt, nicht zerstört. Auch im Verlöschen hatte es ihm seine Macht nicht ganz entzogen.
Gerecht ist es nicht, findet er, als er an seine weniger begünstigten Mitgefangenen denkt und bekämpft angestrengt sein schlechtes Gewissen. Es hätte den anderen nicht geholfen, hätte er darauf verzichtet, seine Möglichkeiten zu nutzen. Er würde das Schicksal nie mehr herausfordern, schwört er sich dankbar, und die einfachen belegten Käsebrote scheinen ihm die größte Delikatesse zu sein, die er je zu sich genommen hat.
Hoffnung hinter dem Horizont
Früher Morgen. Stille über der Stadt. Die Dämmerung des anbrechenden Tages. Man spricht leise. Jedes Wort und jeder Schritt hallen von den Wänden des Hauses wider. Die Möbel sind mit großen Tüchern abgedeckt, Hab und Gut in Kisten verpackt. Was man mitnehmen kann, wird Wasja mit Hauslehrer Pfister zum
Bahnhof vorausbringen. Es ist nicht viel. Wertsachen dürfen nicht außer Landes gebracht werden. Den »Mann mit dem Fagott« und ein paar andere Gegenstände, an denen Heinrichs und Annas Herz hing, hatte man dank Heinrichs Kontakten vorausschmuggeln können. Schmuck und das Silberbesteck hat Pascha in den letzten Tagen in Brotlaibe eingebacken. »Reiseproviant.« Doch das meiste mußten sie zurücklassen. Ein letzter Blick auf das, was man aufgeben wird. Rudi tastet nach seinem Taschentuch, in das er Erde aus dem Garten gewickelt hat. »Heimaterde«, die ihn immer an dieses
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