Der Mann mit dem Fagott
Land, dieses Haus erinnern soll. Eine zarte Blume aus dem Garten steckt im Knopfloch seines Hemdes. »Ich komme wieder«, verspricht er in Gedanken jedem Baum, jedem Strauch, dem Haus, der Stadt und möchte es selbst gern glauben.
Nastasja, die junge Dienstbotin, die wie Pascha keine Familie hatte, war die ganze Nacht aufgeblieben und hatte das Haus saubergemacht. »Was soll ich denn sonst tun? Sonst weine ich nur«, hatte sie gesagt. »Und ich möchte, daß Sie das Haus schön und sauber in Erinnerung behalten.«
Sie hält den siebenjährigen Werner am Arm fest, prägt sich noch einmal sein Gesicht mit der kleinen, runden Brille ein. »Du darfst Rußland nicht vergessen, ja? Auch wenn jetzt schreckliche Dinge passieren, es ist ein gutes Land! Und du wirst wiederkommen, das weiß ich, und ich werde da sein.« Werner nickt ratlos, löst sich schlängelnd aus ihrer ungewohnt festen, etwas fremden Umklammerung und läuft zu Pascha. »Sie hat geweint«, erklärt er erstaunt.
»Ich weiß«, antwortet Pascha und bindet dem eineinhalbjährigen Johnny die Schuhe zu.
Eine merkwürdige »Prozession« macht sich zu Fuß auf den Weg zum Petersburger Bahnhof. Fünf Kinder und drei Erwachsene in die rauhe, kratzende Kleidung der Dienstboten gehüllt, um nicht aufzufallen. Überall auf der Straße werden zur Zeit Deutsche angegriffen, ausgeraubt oder schlimmeres. In der letzten Zeit durften die Kinder deshalb nur noch im Garten hinter dem Haus spielen.
Geheimnisvolles Licht, das die Kinder so nicht kennen. Zu dieser frühen Stunde waren sie noch nie unterwegs gewesen. Abenteuerlust und Angst, Vorfreude und Verweigerung in ständigem Wechsel. Der kleine Johnny schläft auf Paschas Arm, der knapp
siebenjährige Werner nimmt Paschas Hand, Gert mit seinen fünf Jahren drängt sich an Anna, während Rudi und Erwin neben ihrem Vater hergehen. Erwin, mit seinen elfeinhalb Jahren schon ganz den Erwachsenen mimend, um dem Vater beizustehen.
Er spürt, wie schwer es dem Vater fallen muß, die Familie zum Bahnhof und damit außer Landes zu bringen, während er selbst zurückbleiben muß. Deutsche Männer im wehrfähigen Alter läßt man nicht ausreisen. Und der Antrag auf russische Untertanenschaft, den er in der Butyrka als Preis für seine Freiheit gestellt hat, hält ihn ohnehin auf unbestimmte Zeit im Lande fest. Aber wenigstens die Familie soll heute in Sicherheit gebracht werden, ins neutrale Schweden. Man hat ein Schreiben von Wladimir Fjodorowitsch Dzhunkowskij, in dem er Anna, den Kindern und drei ihrer Dienstboten Plätze im Sonderwaggon zur Ausreise über die Grenze in die unabhängige Provinz Finnland zuweist. Ein letzter Sonderwaggon, von ihm persönlich zur Verfügung gestellt zur Evakuierung deutscher und deutsch-russischer Familien - ohne die kriegstauglichen deutschen Familienväter oder Söhne im dienstfähigen Alter. Der Waggon wird plombiert und erst in Finnland, das zwar zu Rußland gehört, aber über einen unabhängigen Sonderstatus verfügt, wieder geöffnet werden. Von dort aus konnte jeder seiner Wege gehen.
»Bis ich wieder bei euch bin, übernimmst du die Rolle des Mannes im Haus«, wendet sich Heinrich an seinen Ältesten. »Du paßt auf deine Mutter und deine Brüder auf. Kann ich mich auf dich verlassen?«
»Ja, Papa«, erklärt Erwin stolz.
Auch Pascha wird heute ihre Heimat verlassen. Sie hat bisher in ihrem Leben nur das Dorf gesehen, in dem sie geboren wurde, und später Moskau, in dem sie in Heinrichs und Annas Dienst und Obhut stand. Es hat nie ein Zweifel daran bestanden, daß sie die Familie begleiten und an Annas Seite stehen würde. Etwas anderes war undenkbar. Und auch der Staat hatte keinerlei Bedenken, sie gehen zu lassen. Eine russische Analphabetin, die nicht einmal wußte, wann sie geboren war, ließ man bedenkenlos ziehen.
»Vielleicht ist es in Schweden ja auch ganz schön«, versucht Erwin seinem Vater durch Vernunft zu imponieren, ihm den Rücken zu stärken.
»So schön wie hier ist es da bestimmt nicht«, erwidert Rudi mit kindlichem, ernstem Trotz.
»Dann ist es eben anders schön«, beharrt Erwin. »Ich hab es dir doch auf meinem Globus gezeigt: Da, wo wir hinfahren, ist ganz in der Nähe das Meer. Wir werden immer ans Meer fahren zum Baden! Das wird bestimmt herrlich!«
Rudi sieht seinen Bruder feindselig an. »Ich will nicht baden! Ich will hierbleiben.«
Je näher sie dem Bahnhof kommen, desto mehr wird die Ruhe vom Chaos des anbrechenden Tages abgelöst. Irgendwo fallen
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