Der Mann mit dem Fagott
bei seinem angekommen sein. Er muß sich beeilen, blickt sich oberflächlich um, sieht niemanden, vor dem er meint, sich in acht nehmen zu müssen. Nur ein etwas abwesend wirkender Mann in Zivil an der Waggontür, auf die er zueilt. Heinrich setzt seinen Fuß auf die Stufe des Einstiegs. Blitzschnell verstellt der Mann ihm den Weg. »Polizei - Ihre Papiere.« Eine erstaunlich ruhige Stimme. Entsetzt blickt Heinrich dem Mann ins fast unbewegte Gesicht. Ein Routine-Vorgang. Widerstand zwecklos. Zwei Soldaten treten hinzu, Gewehre in der Hand.
Heinrich greift in seine Tasche, zeigt seinen Ausweis, wird unsanft vom Zug weggezogen. Beamten beginnen, den Waggon zu verplomben, in dem seine Familie sitzt. Heinrich muß tatenlos zusehen. Bestürzter Blickwechsel mit Anna. Schuldgefühle und Panik in Erwins bleichem Gesicht. Er beginnt zu weinen. Heinrichs hilfloser Versuch eines Lächelns.
»Weg vom Fenster!« Die Soldaten herrschen Anna und Erwin an. Abschiednehmen mit einem letzten kurzen Blick.
»Sie sind Deutscher?«
»Ja.«
»Sie haben einen Antrag auf russische Untertanenschaft gestellt?« Das entsprechende Papier lag in seinem Paß.
»Ja.«
»Ausreisegenehmigung?«
»Ich habe nur meine Familie zum Zug begleitet, wollte mich nur verabschieden.«
»Sie haben also keine?«
»Nein.«
»Das war also ein Fluchtversuch. Sie wollten doch gerade einsteigen.«
»Ja, um mich von meiner Familie zu verabschieden«, versucht Heinrich verzweifelt, noch irgendetwas an der Situation zu retten.
»Das wird sich später klären. Hände auf den Kopf. Sie sind verhaftet.«
Heinrich wird nach Waffen abgetastet.
Das Pfeifen des Bahnhofsvorstehers. Das Fauchen der langsam anfahrenden Lokomotive. Heinrich nimmt es wie aus weiter Ferne wahr. Wenigstens seine Familie ist in Sicherheit. Was immer ihn selbst jetzt treffen wird, er wird es hinnehmen.
Der Zug verschwindet aus seinem Blickfeld. Länger noch hört er das Rattern und Pfeifen, das langsam leiser wird und schließlich ganz verebbt. Hoffnung hinter dem Horizont.
Er wird weggeführt. Verschlossene Gesichter, wohin er schaut. Feindseligkeit und Fremdheit in jedem Blick. »Feindesland«, denkt er plötzlich und schämt sich nicht für diesen Gedanken, ist nur ein wenig irritiert von der Klarheit, mit der er es mit einemmal fühlt.
»Wer ist denn nun der Reichste hier?«
Ein harter Ruck. Fauchend und zischend das Geräusch der Bremsen. Heinrich drängt sich an eine der schmalen Ritzen in der Wand des Güterwagens, die einzige erbärmliche Licht- und Luftquelle seit Tagen, abgesehen von den kurzen, seltenen Gelegenheiten, bei denen der Zug hielt, die Türen für ein paar Minuten geöffnet wurden. Alle ein bis zwei Tage solch ein kurzer Halt. Wer die Kraft hatte, stieg für einen Moment aus, die Eimer mußten geleert werden, die auch in diesem Zug wie im Gefängnis wieder zur abstoßendsten »Einrichtung« gehörten, einer holte das Brot, die dünne
Suppe, das wenige Wasser, das wieder bis zum nächsten Halt reichen mußte. Die anderen sogen die Luft an der für Augenblicke offenen Tür ein, versuchten, die Schilder der Stationen zu lesen, in denen man hielt. Die Orientierung hatte man schon lange verloren, und die Ortsnamen der winzigen, verfallenen Bahnhöfe, sagten niemandem etwas. Niemand war je zuvor so weit in die Endlosigkeit des Zarenreiches gefahren.
Sechs Tage und Nächte war man nun schon unterwegs. Zusammengepfercht in einem Güterwagen, der nicht einmal mit Stroh ausgelegt war. Nicht jeder hatte Platz zum Liegen. Wer kräftig genug war, saß, lehnte sich an den Nebenmann oder, wenn man Glück hatte, an die Wand.
Endlose Nächte, in denen die Schlaflosigkeit einen frieren ließ, ein Dämmerzustand, der all die grauen Gedanken schärfte, gleichzeitig aber das Gemüt und die Widerstandskraft schwächte. Schmerzende, zitternde Glieder, die den eigenen Körper fremd erscheinen ließen, schwer, unkontrollierbar, fast wie Ballast. Tagsüber quälte die schwüle Hitze, der penetrante Geruch. Die Schwächsten schafften es nicht einmal mehr bis zum Eimer. Unbeschreiblicher Gestank machte sich breit. Schmerzende Glieder, Hunger, Durst, Hitze, Kälte und auch noch Scham angesichts der verdreckten Gestalt, in die man sich plötzlich verwandelt sah.
Schon lange kein Gefühl mehr für Tag und Nacht. Nur die wenigen, die durch die Ritzen spähen konnten, konnten ein wenig Sonnenlicht sehen oder das Grün der Büsche am Rand der Geleise oder nachts das rhythmische Aufflackern
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